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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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ich mich und in die Vergangenheit schicken lassen, zurück zu dem Tag, an dem Orla in ihr himmelblaues Auto stieg und losfuhr, um mich zu suchen.

Die Harder
1990
    Irgendwann hatten Wilbur und Conor genug ins Land hineingesehen, drehten sich um und blickten aufs Meer. In der Gegend wurden sie die Zwillinge genannt, in der Schule waren sie nicht einmal mehr einen Spottnamen wert. Miss Ferguson erzählte überall stolz, wie intelligent Wilbur sei und welch positiven Einfluss er auf Conor habe. Wenn das Wetter ein Einsehen hatte, saßen die beiden auf dem flachen Hügel neben dem Haus und zählten die Namen der Fische auf, die im Meer schwammen, die Bezeichnungen der Wolken, die vorbeizogen, die Länder, die hinter dem Horizont lagen. Sie wussten, welche Vögel über ihren Köpfen flogen und was für Käfer zu ihren Füßen krochen, erkannten Flugzeuge an ihrer Form und Autos am Motorengeräusch.
    Was ausgebreitet vor ihnen lag, war ein kleiner Teil der Welt. Sie machten ihn größer, indem sie den dunklen Rest mit ihrem Wissen erhellten, sich ein Universum schufen aus Fakten und Träumen, aus Daten und aus Sehnsucht. Beide wussten, dass sie wegwollten, Conor lieber heute als morgen, Wilbur in einer unbestimmten Zukunft. Conor hasste das Land, in dem er festsaß und in dem sein Vater die Macht hatte. Wilbur mochte diesen winzigen Flecken, hier war sein Zuhause, hier lebten er und Orla, mit der ihn unermessliche Liebe verband.
    Zwang das Wetter sie ins Haus, hörten sie mit Orla am Küchentisch Radio. Conor saß nicht mehr nur stumm lauschend und mit glühenden Ohren da, jetzt sangen er und Orla die Hitparadensongs mit. Er hatte eine gute, klare Stimme und ließ sich nicht einmal durch Wilbur irritieren,der in jähen Begeisterungsschüben auf der Tischplatte trommelte. Oft lagen sie auch in Wilburs Zimmer auf dem Boden und lasen, spielten zu dritt Monopoly oder ließen sich von Orla Meldungen vorlesen, die sie aus der Zeitung schnitt. Orla hatte sich längst damit abgefunden, Wilbur mit Conor zu teilen, betrachtete es mittlerweile jedoch nicht mehr als Verlust, sondern als Gewinn. Es war eine Freude, die beiden zusammen zu sehen, und auch wenn Conors Haare schwarz waren und sein Körper von träger Kraft strotzte, gefiel Orla die Vorstellung, die Jungen seien Zwillinge.
     
    Conors Vater, Sean Lynch, besaß ein kleines Sägewerk, das Holz an Baufirmen lieferte und Telefonmasten, Zaunpfähle und Gartenzäune herstellte. Conors Mutter Aislin kümmerte sich neben Conor um die drei jährige Fiona und den vierzehnjährigen Kieran, der wegen Sauerstoffmangels die Geburt fast nicht überlebt hatte und geistig und körperlich behindert war. Die Familie wohnte in einem Haus neben dem Werksgelände, und an trockenen Tagen lag der Holzstaub wie gelber Schnee auf den Fenstersimsen. Seit vierzehn Jahren stand das Haus da, und ein Teil der Fassade war noch immer unverputzt, der Rest grau und ohne Anstrich.
    An den Lärm der Bandsäge, der Gebläse und der Lastwagen, die auf den Hof fuhren, hatte Aislin sich nach all den Jahren ebenso gewöhnt wie an den Geruch von Holz und Teer und die Abgase der Dieselmotoren, aber damit, in einem unfertigen Haus zu leben, fand sie sich nur schwer ab. Die rohen Bausteine erinnerten sie jeden Tag aufs Neue daran, dass ihr Mann nach Kierans Geburt keinen Sinn mehr darin gesehen hatte, die Arbeiten am Haus zu beenden. Ihr Heim war ein Denkmal für ihr Scheitern, einen gesunden Sohn zur Welt zu bringen, und weder Conors Geburt noch die von Fiona änderten etwas an Seans sturer Verzweiflung.
    Um dem missglückten Kind aus dem Weg zu gehen, stand Sean als erster auf und verließ als letzter die große Werkshalle, in der Küche aß er nur dann zu Mittag, wenn seine Frau mit Kieran beim Arzt in Letterkenny oder Dublin war, und lieber benutzte er die verdreckte Toilette hinter dem Geräteschuppen, als dass er riskierte, seinen Ältesten imHaus anzutreffen. Wann immer sich die Gelegenheit bot, bezahlte er für Kieran einen Platz in einem staatlich geführten Camp auf dem Land oder die Teilnahme an einem Kurs, wo Behinderte lernten, Dinge wie Bücherstützen, Holzspielzeug oder Bilderrahmen herzustellen.
    Während Kieran irgendwo im County Wicklow nervös lachend auf einem Pony saß oder in einem Backsteingebäude am Rande Dublins einen Pinsel vorsichtig in Leim tunkte, wurde aus Sean Lynch, dem unsichtbaren Mann, ein Vater. Kaum war der Beweis für Gottes Fehlbarkeit weit weg, brach sich seine Liebe Bahn und

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