Nach Hause schwimmen
»Wer in die Stadt kommt, wird zuerst auf der Beobachtungsstation behalten. Oder, wie in deinem Fall, auf der Krankenstation. Aber das Ziel ist, die Männer so schnell wie möglich auf die Halboffene oder Offene zu verlegen. Wer raus will, zurück nach Hause, zu seiner Familie oder wohin auch immer, kann das natürlich auch. Jederzeit. Hier wird keiner gegen seinen Willen festgehalten.« Er nimmt einen langen Schluck und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund. »Auch da gibt es Ausnahmen. Zum Beispiel wenn jemand akut gefährdet ist, unberechenbar.«
Ich frage mich, ob Vermeer denkt, ich sei so ein Fall. Eine Gefahr für die Allgemeinheit. Ein unheilbar Lebensmüder, der bei seinem Suizid Unschuldige mit in den Tod reißt, beim Sprung vom Hochhausdach einen Verkehrsunfall verursacht, auf den Schienen liegend einen Zug zum Entgleisen bringt, mit dem Kopf im Backofen eine Gasexplosion ineinem Wohnhaus auslöst, seinen Schädel durchlöchert und mit derselben Kugel auch die Nachbarin hinter dem Küchenfenster tötet.
Melvin sieht mich an und lächelt, als könne er meine Gedanken lesen. »Dass du bei uns bist, hat seinen Grund, Will. Doc Vermeer weiß, was er tut.«
Ich nehme den Zettel, kritzle VERMEER und ein Fragezeichen auf die Rückseite und gebe ihn Melvin.
»Doktor Ruud Vermeer. Er ist hier der Chef. Ich glaube, er arbeitet dreißig Stunden täglich. Er und Doktor Burroughs leiten das Susan und Kate Caldwell Institut für Humanforschung, wie die Stadt offiziell heißt. Burroughs ist die meiste Zeit in der Frauenstadt hinter dem Hügel.« Melvin sieht mein erstauntes Gesicht und lacht. »Tja, auch Frauen versuchen sich umzubringen.«
Ich denke an Rosie O’Sea und nicke.
»Die beiden haben das alles hier entwickelt, das Konzept, die Behandlungsmethoden, die Architektur, die Kleidung, die wir tragen, einfach alles. Sie wollten den staatlichen Nervenheilanstalten etwas entgegenstellen, etwas Humanes, weniger Klinisches. Die Bewohner sollen sich nicht als Insassen fühlen, sondern als das, was sie sind: Menschen, die in den dunkelsten Tagen ihres Lebens Hilfe brauchen.« Melvin lächelt sein Lächeln und trinkt einen Schluck. Vermeer sollte ihn zum Pressesprecher machen.
»He, Melvin!« Ein Typ, der Sam heißt, betritt das Zimmer und hält Melvin ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber hin. »Unterschreib hier.« Er sieht mich an. »Du auch.«
Melvin überfliegt den Text auf dem Blatt. »Ich habe nichts gegen die Ziegen.«
»Ich auch nicht. Aber gegen ihr verdammtes Gemeckere. Ich kann nicht schlafen, Mann!« Sam sieht mich noch immer an. Ich kann den Kerl nicht ausstehen.
»Tut mir leid«, sagt Melvin freundlich. Er gibt Sam das Papier und den Kugelschreiber zurück. »Mich stören sie nicht.« Er lächelt und trinkt einen Schluck aus der Dose.
»Was ist mit dir?« fragt Sam mich. »Magst du Ziegenlärmbelästigung?«
Ich stelle mich blöd und sehe Melvin an.
»Will ist neu hier«, sagt Melvin. »Er muss sich erst einleben.«
Sam starrt mich eine Weile mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Verwirrung an, dann verlässt er das Zimmer.
»Sam ist andauernd wegen irgendetwas unzufrieden«, sagt Melvin, als Sam außer Hörweite ist. »Vor ein paar Wochen hat er eins der Aquarien mit seinem Bettlaken abgedeckt und zu einem Protest aufgerufen. Weißt du, wogegen?«
Ich schüttle den Kopf.
»Gegen die Luftblasen!« Er sieht mich an, als warte er auf einen Kommentar. Dann scheint ihm einzufallen, dass ich nicht rede. »Ihn stören die Blasen aus den Sauerstoffgeräten. Er sagt, sie machen ihn krank.« Melvin kichert kurz, dann sieht er bekümmert vor sich hin. Schließlich trinkt er einen Schluck warmes Malzbier und sieht mich an. »Wo waren wir? ... Ach, Doc Vermeer, genau. Man hat ihn aus Holland geholt, wo er etwas Ähnliches aufgebaut hat. Viel kleiner und bescheidener natürlich. Hier hatte er alle Möglichkeiten, seine Idee im großen Stil umzusetzen. Die Caldwell-Stiftung verfügt über Millionen.« Melvin dreht die Dose in der Hand und betrachtet sie, als nehme er zum ersten Mal den aufgedruckten Namen wahr.
Ich warte, überlege, ob ich eine Frage aufschreiben soll.
Melvin ist noch immer in die Betrachtung der Dose vertieft. Dann sieht er mich an, lächelt. »Du fragst dich bestimmt, wer Susan und Kate Caldwell sind.«
Ich nicke. Ich liege in Hosen und T-Shirt auf dem Bett, das National Geographic mit dem Artikel über die Stämme in Neuguinea bedeckt meinen Bauch. Das Titelblatt
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