Nach Hause schwimmen
endlich aufgehört hat zu kichern. »Sie sollten sich überlegen, mit Ihrer Frau zu feiern, Stanley.«
Stan nimmt die Brille ab, sieht sie lange an, reibt die Gläser am Pullover sauber, legt die Bügel um und steckt die Brille in die Brusttasche. Pendergast setzt den Punkt ans Ende eines Satzes und streicht sich über Bart und Krawatte.
Stan weint. Ich sehe die Tränen und wende den Blick ab. Die anderen fühlen sich auch plötzlich unbehaglich, keiner schaut ihn jetzt mehr an, nicht einmal Wayne. Pendergast räuspert sich. Stan zieht die Brille aus der Tasche und setzt sie auf. Dann weiß er nicht, wohin mit seinen Händen. Ich stehe auf und verlasse den Raum. Nach mir kommen Roger und Elroy auf den Flur, dann Sam, Wayne und Carson, schließlich Raymond und Rodrigo mit dem zweiten Pfleger. Ich drehe mich um und sehe, wie Vermeer vor Stan kauert und auf ihn einredet, dann fällt die Tür zu.
Am späten Nachmittag sitze ich im Park und lese die Reportage über den Stamm in Papua-Neuguinea zu Ende. Aber ich kann mich nicht auf den Text konzentrieren und lege das Heft immer wieder weg und sehe Ho zu, der in einer Ecke der Wiese einen selbstgebauten Drachen steigen lässt. Obwohl es fast windstill ist, steht der gelbe Kubus aus Balsaholz und Papier hoch über den Bäumen, die das fußballfeldgroße Rasenstück an drei Seiten einfassen. Wenn doch etwas Wind aufkommt, trägt er den Geruch der Ziegen herüber. Elroy, Lefty und ein alter Mann, den ich nicht kenne, spielen Frisbee. Elroy kann weder werfen noch fangen. Er hebt die Scheibe auf, rennt auf Lefty zu und wirft sie mit beiden Händen wie einen Teller. Zwei Wärter schlendern umher. Sie vermeiden es, so auszusehen, als passten sie auf uns auf.
Ich nehme mir vor, Vermeer zu fragen, wo mein Koffer ist. Vielleicht würde mir der Anblick meiner Habseligkeiten helfen, mich an die Zeit zu erinnern, die zwischen meinem letzten Tag im Hotel und meiner Ankunft hier vergangen ist. Daran, dass ich mich am Empfang mit Conor Finnerty eingetragen habe, erinnere ich mich noch, auch an die alten Männer, an die schäbige Lobby, den launischen Kerl hinter der Thekeund den griechischen Nachtportier. Ich sehe das pornografische Foto vor mir, das in der Hotelbibel lag. Die Frau ist schön, ihr Lidschatten blau wie die Tapete im Hintergrund.
Sam und Rodrigo tragen eine Bank aus dem Gebäude, wo die Schreinerei liegt, auf die Wiese und stellen sie unter eine Baumgruppe. Sam betrachtet die Bank, umkreist sie, geht in die Hocke und entfernt sich ein paar Schritte, um sie erneut zu studieren. Dann geht er zurück. Rodrigo zündet sich eine Zigarette an und legt sich auf die Bank. Beide sehen mich, beachten mich aber nicht. Soll mir recht sein. Ich sitze auf dem Hotelbett und habe etwas vor, weiß aber nicht, was. Ich erhebe mich und gehe über den Kiesweg zur Tür, öffne sie und trete auf den lichtlosen Flur, Ziegengeruch umweht mich, den Fahrstuhl benutze ich nie, nehme die Treppe und stehe in der Lobby, Gras unter den Füßen, blicke in den Himmel, wo der gelbe Drachen fliegt, und weiß nicht, wohin ich soll. Ich schließe die Augen und warte, und irgendwann bewege ich mich, fahre davon, in einem Wagen oder Bus. Aber wohin? Ans Meer, aus dem man mich später herausziehen wird? Je länger ich versuche, den Verlauf der fehlenden Stunden zu rekonstruieren, umso leerer wird mein Kopf.
»Alles in Ordnung?«
Das Fahrzeug setzt seine Reise ohne mich fort. Ich öffne die Augen. Aimee lächelt mich an. Die Narbe auf ihrer Wange ist hautfarben, ein winziger Smileymund.
»Wer meditiert, lebt länger«, sagt sie. »Hab ich gelesen.« Sie sieht mich leicht besorgt an.
Ich lächle, mein Nicken bezieht sich auf ihre Frage, ob alles in Ordnung sei. Nicht dass ich bereue, stumm zu sein, aber jetzt würde ich sie gerne fragen, wo sie die ganze Zeit gewesen sei, ob sie nur auf der Krankenstation arbeite und ob sie in einem der Häuser wohne, in denen die Ärzte und das Pflegepersonal untergebracht sind.
»Diese Woche hab ich in der Offenen Dienst«, sagt sie, als habe sie meine Gedanken gelesen. »Man hat dich zu Melvin gesteckt, stimmt’s?«
Ich nicke. Ich würde mich gerne mit ihr auf eine Bank setzen und unterhalten. Sie hat eine schöne Stimme, und wenn sie lächelt, fühle ich mich gut. Sie trägt keinen Lidschatten, nur etwas Lippenstift undWimperntusche. Ich stelle mir vor, wie es gewesen sein könnte, wenn wir uns draußen begegnet wären. Möglich, dass sie mir in der Nähe des
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