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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Hotels über den Weg gelaufen wäre. Vielleicht hätte es geregnet, und die Zeitung über ihrem Kopf wäre völlig durchgeweicht gewesen. Ich hätte ihr meinen Schirm angeboten. Erst hätte sie mich für einen Verrückten gehalten, für einen der Irren, von denen es in der Gegend wimmelt. Oder sie hätte gedacht, ich wolle sie anmachen. Dann hätte ich irgendetwas Harmloses gesagt, etwas Nettes, vielleicht sogar Geistreiches, Witziges. Sie hätte gelacht, na ja, gelächelt. Der Regen wäre heftiger geworden, sie hätte ihren Argwohn abgelegt und mit einer Hand nach dem Schirmgriff gefasst. Oder sie hätte sich bei mir untergehakt, jegliche Bedenken verwerfend. Ein kalter Wind hätte uns in ein Café getrieben, wo alte Leute aus der Nachbarschaft sitzen, Karten spielen und über die Launen ihrer Haustiere reden. Wir hätten Milchkaffee getrunken, ihr Haar wäre feucht gewesen. Die Kellnerin hätte sie Kindchen genannt und uns warmen Apfelkuchen aufgeschwatzt. Der Regen wäre gegen die Scheiben geprasselt, die Welt auf diesen Ort geschrumpft. Sie hätte mir erzählt, dass sie Aimee heiße, als Pflegerin arbeite und drei Blocks entfernt wohne. Dann hätte sie mich aufgefordert, von mir zu erzählen, und ich hätte auf die Straße hinausgeschaut und nicht gewusst, wo ich beginnen soll.
    »... wenn ich dich Will nenne. So heißt du doch, oder? Will.«
    Ich sehe sie an. Ihre Haare sind nicht mehr feucht, der Streifen aus Milchschaum über ihrer Lippe ist verschwunden. Ich habe nicht gehört, was sie gesagt hat. Sie lacht, schüttelt den Kopf. Vermutlich bin ich rot angelaufen. Dann nimmt sie meine Hand. »Komm mit«, sagt sie und zieht mich über die Wiese. Das Gras unter meinen Füßen ist weich, verfärbte Blätter liegen herum, in den Büschen scharren Vögel, schwarze Amseln. Wir gehen durch einen kleinen Wald, ich sehe Eichhörnchen, bestimmt von Vermeer hier angesiedelt.
    In der Hütte riecht es nach Harz, die Scheiben sind schmutzig und die Bodenbretter auch. Aimee zieht die Tür zu. In den Ecken schaukeln Spinnweben im Luftzug, staubgepudert. Fliegen liegen darin wie in zu großen Hängematten. Aimee streift das Sweatshirt über den Kopf und gibt es mir. Dann öffnet sie den Verschluss des Büstenhalters undnimmt ihn ab. Dabei sieht sie mich unentwegt an. Ich senke den Blick und starre auf ihre Brüste, weil ich ihr nicht ins Gesicht sehen kann. Sie nimmt meine Hand und legt sie auf ihre Brust. Ich bewege meine Finger nicht, vergesse zu atmen. Ihre Haut ist warm, meine Hand kalt. Schwarze Flecken tanzen vor meinen Augen, ich schließe sie, atme ein. Aimee sagt etwas, leise.
    Ich weiß nicht, wie lange ich dastehe in meiner Dunkelheit. Ich versuche, an etwas zu denken, das mir weiterhilft, aber es fällt mir nichts ein. Meine Augen öffnen sich, ich sehe meine Schuhspitzen. Dann drehe ich mich um, reiße die Tür auf und stürze aus der Hütte, renne zwischen den Stämmen hindurch und über die Wiese, wo Elroy, Lefty und der Alte noch immer Frisbee spielen. Sam und Rodrigo tragen die Bank zurück in die Tischlerei. Elroy ruft mir etwas nach, aber ich verstehe ihn nicht.
     
    Im Winter vor meinem zwanzigsten Geburtstag bin ich zu einer Prostituierten gegangen. Ich hatte noch nie mit einer Frau geschlafen und war überzeugt, abnormal zu sein. Drei Tage nach Weihnachten habe ich Geld eingesteckt und mich von einem Taxifahrer in eine der Straßen bringen lassen. Vor Aufregung beinahe ohnmächtig, ließ ich mich von der ersten Frau, die mich ansprach, mitschleppen. Sie hatte eine Wohnung in einem schäbigen Mietshaus, dessen sämtliche Bewohner sich im Treppenhaus aufhielten, als wir hereinkamen. Die Männer grüßten mich und rissen dreckige Witze, einer schlug mir auf die Schulter. Die Frauen grinsten und schätzten mich auf vierzehn. Im Schlafzimmer der Prostituierten roch es nach der fetten Dogge, die erst vom Bett gescheucht werden musste. Auf einer Kommode stand ein Weihnachtsbaum aus Plastik, an den Wänden hingen Tierbilder neben Fotos aus Herrenmagazinen. Der Hund lag auf dem Teppich und sah mich an. Die Prostituierte, von der ich nicht einmal den Namen wusste, sagte, er werde mich zerfleischen, wenn ich sie angreifen würde. Ich versicherte ihr, dass ich nichts dergleichen vorhatte. Sie wollte das Geld im Voraus, und ich gab es ihr. Dann zog sie sich aus. Auf der Straße hatte ich vor lauter Panik nicht bemerkt, wie alt sie war. Sie muss Mitte vierzig gewesen sein, mindestens. Jedenfalls hatte ihr Körper

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