Nach Hause schwimmen
ihm nicht mehr der Mühe wert zu sein. Nachts lag er im Bett und wünschte sich, einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen. Er beschloss, nun doch an Gott zu glauben, und fing an zu beten. Leise flehte er darum, zu Orla gelassen zu werden. Und zu seiner Mutter. Er stellte sich vor, wie er die beiden Frauen im Himmel wiedersah, wie sie zusammen Radio hörten und sangen und kuriose Meldungen aus der Zeitung suchten. Er forderte Gott auf, ihn im Schlaf sterben zu lassen, an einem Herzversagen, einem Schlag, der ihn nachts aus dem Leben holte.
Wenn er am Morgen aufwachte, verwünschte er Gott, der ihn verschont hatte, und am Abend entschuldigte er sich bei ihm und bat ihn erneut um den Tod. In der Zeitung hatte er von Menschen gelesen, die sich selber umbrachten, indem sie von Brücken sprangen, sich auf ein Bahngleis legten, Schlaftabletten schluckten, sich erschossen, aufhängten, die Pulsadern aufschnitten, den Kopf in den Gasofen steckten. Das schien alles sehr kompliziert zu sein und außerdem einen Mut zu erfordern, für den seine Verzweiflung noch immer nicht groß genug war. Als damals Rosie O’Sea im Meer ertrunken war, ging das Gerücht um, sie habe Selbstmord begangen. Glaubte man den Erwachsenen, war das ein noch größeres Vergehen als das von Marie Kavanagh, die sich mit fünfzehn von einem Herumtreiber schwängern ließ. Aus dem Religionsunterricht wusste Wilbur, dass es eine Sünde war, sich das Leben zu nehmen. Pfarrer Fowley, den Wilbur für einen langweiligen Schwätzer hielt, meinte, nur Gott dürfe Menschen umbringen, das gehöre zu seinen unangenehmen Pflichten wie das Zusammenbrauen von Stürmen oder das Versenken von Schiffen. Niemand starb einfach so, ohne Gottes Zutun. Darauf beharrte Wilbur, wenn er nachts die immergleichen Sätze flüsterte, dieselben Forderungen stellte.
Am Tag nach dem Unfall hatte Colm Wilburs Bett aus dem Haus geholt und in den Raum neben seinem Schlafzimmer gestellt. Der Raumhatte zwei Fenster und einen Holzfußboden. Auf Regalen an den Wänden standen Tierfiguren aus Ton, die Colm selber formte. In den Wintermonaten, wenn es auf der Farm weniger zu tun gab, entstand jede Woche eine neue Figur. Mehr als zweihundert Stück reihten sich auf den Holzbrettern, die frühen Elefanten plump und unförmig, die neueren Giraffen grazil und mit beinahe wissenschaftlichem Ehrgeiz bemalt. Vor einem der Fenster stand ein Tisch, an dem Colm den Tieren unter einer Lupe das Fell auftrug. Kleine Pinsel ragten aus Gläsern, in einem Teller lag Sandpapier. Ein aufgeschlagenes Buch zeigte Zebras, ein Umschlagbild einen Leoparden. Links und rechts des Arbeitstisches, in türlosen Schränken, stapelten sich Bildbände und Zeitschriften.
Vor ein paar Wochen hätte Wilbur nichts lieber getan, als in den Büchern zu blättern und die Figuren einzeln vom Regal zu nehmen und zu betrachten. Jetzt nahm er sie kaum wahr. Nach der Schule setzte er sich zu Colm in die Küche, zwang sich, den Teller leer zu essen und Colms gutgemeinte Fragen zu beantworten. Die Hausaufgaben erledigte er rasch und so beiläufig wie Geschirrabtrocknen oder Zähneputzen. Sein Verstand schien unabhängig von seinen Gefühlen zu funktionieren, wie ein getrennter Kreislauf, angetrieben von einer Energie, die sich aus Abgestumpftheit und Resignation speiste. Das wurde Colm bewusst, wenn er beim Kartenspiel, das er in der Hoffnung auf einen heilenden Effekt allabendlich anordnete, regelmäßig verlor oder wenn er Wilbur aufs Geratewohl testete, indem er Fragen aus dem Lexikon abschrieb und ihn nach der Hauptstadt von Mali oder dem Namen eines römischen Kaisers fragte. Er sah, wie Orlas Tod Wilbur die Lebensfreude, jegliche Neugier, Unvernunft und Fahrlässigkeit genommen hatte, alles, was einen Jungen ausmachte. Was blieb, war eine Hülle, der schmale, federleichte Körper, der sich weiterhin bewegte, und der Kopf, in dem gerade für so viele Gedanken Platz war, wie man zur Lösung einer Rechenaufgabe oder zum Abrufen eines historischen Ereignisses brauchte.
Colm ahnte nichts von Wilburs Wunsch, zu sterben, und selbst wenn er die Gebete aus dem Nebenzimmer gehört hätte, hätte er nicht gewusst, wie er das Kind trösten sollte. Es gab keinen Trost. Nicht für den Jungen, und auch nicht für Colm, der sich plötzlich als alter Mann fühlte. Nichts von dem, was jetzt noch geschehen mochte, würde von Bedeutung sein.
Den Monaten und Jahren, die vor ihm lagen, fehlte alle Wärme und jeder Funke Hoffnung, kein Tag ohne Orla
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