Nach Hause schwimmen
und sich beide Beine brechen und wie Pauline beim Anblick seiner zerschmetterten Glieder das Bewusstsein verlieren würde. Der Gedanke gefiel Wilbur und half ihm, die Arbeit hinter sich zu bringen. Er gefiel ihm aber nicht gut genug, um den Sprung von der Leiter tatsächlich zu wagen.
Wie er es versprochen hatte, besuchte Colm Wilbur nach einer Woche. Er war dünn geworden, und Wilbur sah, wie jedes Lächeln ihn Kraftkostete. Colm hatte eine seiner Tonfiguren dabei, ein Nashorn, das er Wilbur schenkte. Wilbur zeigte ihm sein Zimmer, danach saßen sie im Garten, sahen in den Himmel und fachsimpelten über die Wolken und den Wind und ob es bald regnen würde. Als es dann tatsächlich regnete, machte Pauline ihnen Tee, und nach zwei Stunden verabschiedete sich Colm und ging. Wilbur hätte ihn gerne gebeten, das nächste Mal den Fernseher mitzubringen, heimlich natürlich, damit Pauline nichts merkte, aber er wusste, wie albern sein Wunsch war.
Am Gartentor umarmte Colm ihn und machte sich dann auf zur Bushaltestelle. Der Regen hatte aufgehört, aber es war kalt geworden und dunkel unter den tiefen Wolken. Wilbur sah dem alten Mann in seinem schwarzen Sonntagsanzug nach, und plötzlich durchströmte ihn ein banges, schmerzliches Gefühl, dessen Ursache er nicht benennen konnte. Er wollte Colm nacheilen und seine Hand nehmen und mit ihm den Weg bis zur Kreuzung gehen, aber dann rief Pauline ihn hinein, weil er vor dem Abendessen seine Hausaufgaben machen musste. Wilbur gehorchte widerwillig, rannte in sein Zimmer hoch und beobachtete durch ein Fenster, wie Colm auf der schwarzen, vom Regen glänzenden Straße immer kleiner wurde und schließlich hinter einer Kuppe verschwand.
Nach dem Abendessen schrieb Wilbur Colm einen Brief, in dem er sich für das Nashorn bedankte und ihm sagte, dass er ihn vermisste. Weil ihm danach nichts mehr einfiel, schrieb er den Text von Mistletoe and Wine darunter und nahm sich vor, Colm beim nächsten Besuch die Melodie des Liedes beizubringen. Dann zeichnete er etwas, das ein Nashorn sein sollte, steckte den Brief in einen Umschlag und legte ihn in das Versteck.
In dieser Nacht lag Wilbur lange wach, und wenn er sich anstrengte, konnte er von unten die Musik der Seifenopern und die Stimmen der Schauspieler hören. Er überlegte, wie es wohl war, so zu tun, als sei man jemand anderes. Er fand Gefallen an der Idee, sein Leben sei eine Inszenierung und er eine Figur, die es nicht wirklich gab. In so einem Spiel konnte er verletzt werden, ohne Schaden zu nehmen, genauso wie Orla es ihm im Kino erklärt hatte. Das Schicksal mochte Kugeln und Pfeile auf ihn abschießen, doch er war unverwundbar. Er verspürte weder Freude noch Ungeduld, wenn er sich den weiteren Verlauf seinesLebens vorstellte, aber sterben wollte er auch nicht mehr. Der Mann im Film nahm in jeder Sekunde den Tod in Kauf, versuchte jedoch mit allen Mitteln, ihn zu verhindern. Es war nicht die Liebe zum Leben, die ihn auf den Beinen hielt, es war die Verachtung für den Tod. Man musste die eigene Existenz als Kräftemessen begreifen, als Wettkampf des Menschen gegen eine höhere Gewalt, die alles daransetzte, einen zu vernichten.
Die Frage, die Wilbur sich stellen musste, lautete, ob er weich und feige sein wollte wie sein Vater oder zäh und gnadenlos wie der Mann im Film. Die Antwort war so klar, dass Wilbur in dieser Nacht Gott nicht mehr bat, ihn umzubringen. Er hörte überhaupt auf zu beten und murmelte stattdessen Sätze ins Dunkel, die seine Angst in Mut verwandelten und seine Verzweiflung in sture Kraft. Er wollte stark werden und hart und wünschte sich, irgendwann nichts mehr fühlen zu müssen.
An einem Sonntag, wenige Tage vor Ende der Herbstferien, stahl Wilbur einem alten Mann, der von Pauline und Henry zum Essen eingeladen war, fünf Zigaretten aus der Packung. Er hatte dem Mann und den beiden Frauen, alle drei Bewohner eines Seniorenheims, eben einige Passagen aus der Bibel vorgelesen und nutzte die Gelegenheit, als die Gesellschaft in den Garten ging, um unter Henrys Anleitung Krocket zu spielen. Während die betagten Leute angestrengt unbeholfen versuchten, die Kugeln zu treffen, nahm Wilbur die Zigaretten an sich und versteckte sie in seinem Zimmer hinter dem Schrank. Danach stand er eine Weile am Fenster und sah dem Treiben auf der Wiese unter sich zu. Mr. Walsh hustete stark, und Wilbur bildete sich ein, ihm durch den Diebstahl einen Gefallen erwiesen zu haben.
Als es zu regnen begann, eilten
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