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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Kiesplatz überquert hatten, erreichten sie das Haus, einen zweistöckigen Bau, an dem sich Efeu bis zum Dach emporrankte. Der Alte ließ Wilbur erst los, nachdem er ihn im Wohnzimmer in einen Sessel gedrückt hatte, dann setzte er sich ihm gegenüber in einen zweiten, größeren Sessel, stützte die Hände auf den Gehstock und starrte seinen Gefangenen nachdenklich an.
    »Ich kenne dich«, sagte er und schien Wilburs Namen in dessen Augen lesen zu wollen.
    Wilbur senkte den Blick und hoffte, seine nassen Schuhe würden auf dem Teppich ordentliche Flecken hinterlassen. Eine Katze kam auseinem Nebenraum und strich ihm um die Beine, bis der Mann sie zu sich rief und hochhob. Wilbur überlegte, aufzuspringen und davonzurennen, aber der Mann saß keine zwei Meter vor ihm und würde ihn bestimmt packen, sobald er sich bewegte. Er stellte sich vor, er wäre der Held des Films und der Alte der Anführer der Verbrecher. Er war verletzt und seinem Feind in die Hände gefallen. Jetzt ging es darum, ruhig zu bleiben und den richtigen Moment abzuwarten, den Augenblick der Flucht oder des Angriffs. Wilbur entspannte sich, setzte die Miene auf, die er im Schuppen geübt und vor dem Badezimmerspiegel perfektioniert hatte. Er legte sich einen Satz zurecht, der abgebrüht klang, furchtlos und kalt. Er hatte Zeit. Zumindest bis fünf, wenn er im Haus der Conways den Tisch decken musste.
    Der Mann streichelte, nachdenklich ins Leere blickend, die Katze, und Wilbur hob den Kopf und sah ihn an. Er schätzte ihn auf über siebzig, das war mindestens so alt wie Mr. Walsh, eher älter. Die Vorstellung, einen schwächlichen Greis anzugreifen, um zu fliehen, missfiel Wilbur. Er wollte Feinde, die ihm ebenbürtig waren, unzimperlich und verschlagen wie er selber.
    »Jetzt hab ich’s!« rief der Mann plötzlich und schlug sich mit der flachen Hand auf den Schenkel. Die Katze sprang von seinem Schoß, blieb einen Moment verwirrt neben dem Sessel stehen und rannte dann aus dem Zimmer. »Du bist der Neue der Conways!«
    Wilbur sagte nichts. Er war erschrocken wie die Katze und hasste sich dafür. Jetzt nahm er alle Kraft zusammen und starrte dem Mann ins Gesicht. Er hätte sich gerne eine Zigarette angezündet, um seine Gelassenheit zu unterstreichen. Aber die Streichhölzer lagen im Schuppen, und er konnte seinen Bewacher schlecht um Feuer bitten.
    »Nein, so was auch«, sagte der Alte. Er grinste und trommelte mit den Fingern auf der Lehne des Sessels, dessen braunes Leder faltig und brüchig war und Wilbur an die kahle Haut eines sehr alten, in der Sonne verendeten Tieres denken ließ. Der Mann lächelte vor sich hin und nickte.
    Wilbur sah sich im Zimmer um. Neben einem offenen Kamin lagen Torfstücke in geflochtenen Körben. Ölbilder zeigten lichtsatte Landschaften, durch die Wilbur gerne gegangen wäre. Unter einem der Bilderstand eine Kommode, darauf ein Plattenspieler, ein klobiges Modell mit riesigen Schaltern und Knöpfen und dennoch der einzige moderne Gegenstand im Raum. In Regalen standen Bücher, die meisten davon dicker als die Bibel, aus der Wilbur vorlesen musste. Auf einem kleinen Tisch lagen Zeitungen, beschriebene Blätter, Zettel, Brillen und noch mehr Bücher. Es war düster in dem Raum, alles in ihm schien in einer anderen, früheren Zeit zu ruhen. Die Möbel wirkten schwer und unverrückbar, die Vasen dünn und durchlässig, als würden sie bei einer Berührung zerfallen. Von der Decke hing ein Leuchter, dessen Schirm eine gläserne weiße Blume war. Längliche Glühbirnen ragten aus ihrer Mitte, Blütenstempeln gleich. Auf dem runden Tisch neben dem Sessel des Mannes stand eine Bronzefigur, ein Pferd im Galopp, Mähne und Schweif fliegend, eingefroren in einer Sekunde des Glücks, der Sekunde vor dem Tod. Wilbur sah weg, schloss für einen Moment die Augen. Als er sie öffnete, trieb die Sonne etwas Helligkeit durch die Wolken und ließ in einer Ecke des Raumes den Bauch eines Instruments schimmern.
    »Ein Cello«, sagte der Alte.
    Wilbur senkte den Blick, drehte die Schuhspitzen einander zu.
    »Ich konnte mal darauf spielen. Früher, als ich noch meine Schuhe binden konnte.« Der Mann lachte. Es klang wie ein leises Husten.
    Eine Weile saßen sie da und hörten auf das Ticken der Uhr, deren Pendel hinter einem runden Fenster schwang. Es war warm in dem Zimmer, obwohl im Kamin kein Feuer brannte. All die Gegenstände, die es füllten, schienen Wärme abzugeben. Wilbur hatte Durst, er wollte weg. Aber er blieb sitzen. Der

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