Nach uns die Kernschmelze
substantielle Einheiten, die sich unter Bindung einer gigantischen Energiemenge in ihrer Identität behaupten. Zur Ausführung dieser naturphilosophischen Perspektive ist jedoch hier nicht der Raum. In unserem Zusammenhang kommt es nur darauf an, dass es eine Pflicht des Menschen gibt, die Welt in einem Zustand zu hinterlassen, in welchem Leben und Freiheit der Nachkommenden nicht auf eine Weise beeinträchtigt werden, von der wir billigerweise nicht erwarten können, dass sie von den Nachkommenden selbst als zumutbar akzeptiert wird. Das bedeutet erstens, dass keine irreversiblen Transformationen in relevanten Mengen in der Nähe der Erdoberfläche hinterlassen werden. Die Erde darf den Kommenden nicht als Kunststoffmüllplatz übergeben werden. Die späteren Generationen müssen die Möglichkeit haben, unsere Spuren entweder zu beseitigen oder das, was wir ihnen hinterließen, wiederum zu transformieren in das, was ihnen gut scheint. Wir müssen Substanzen hinterlassen, die weiterhin solche Transformationen möglich machen, und dies ohne Spekulation auf ungeahnte technische Fortschritte. Denn zu diesen können wir unsere Nachkommen nicht verpflichten. Das Zweite aber ist dies: Wir haben nicht das Recht, über die Gefahren hinaus, die der Natur innewohnen – Erdbeben, Vulkanausbrüche, Wirbelstürme usw. –, durch unsere Transformation von Materie zusätzliche Gefahrenquellen in unseren Planeten einzubauen (vgl. auch S. 79). Die natürlichen Lebensmöglichkeiten, die die bewohnbare Welt bietet, sind die notwendige Voraussetzung für die Realisierung von Freiheit und Autonomie, also auch für so etwas wie Recht. Angesichts der Endlichkeit der Welt müssen deshalb diese Lebensmöglichkeiten wie ein Kapital betrachtet werden, von dessen Zinsen wir leben, das wir jedoch selbst nicht angreifen dürfen, ohne eine Pflicht gegen unsere Nachkommen zu verletzen, da ja das Grundkapital prinzipiell nicht wieder aufgefüllt werden kann. Jeder Einbau einer irreversiblen Gefahrenquelle kommt aber einem Angreifen eines Grundkapitals gleich. Natürlich spielt hier immer das Mengenproblem hinein. Unterhalb bestimmter Größenordnungen kann man die Fragen nach ihrer Zulässigkeit vernachlässigen, so wie ja auch Mundraub sich von Diebstahl durch die Geringfügigkeit unterscheidet. Im Unterschied zu archaischen Kulturen haben jedoch die Eingriffe der modernen Technik nicht mehr den Charakter des Mundraubs.
Während die Größenordnung bei der Beurteilung der hier anstehenden Frage eine Rolle spielt, kann es auf den Grad der Wahrscheinlichkeit künftiger Katastrophen nicht ankommen. Wahrscheinlichkeit ist eine subjektive Qualifikation künftiger Ereignisse. Wenn ein Ereignis eintritt, dann ist es gleichgültig, wie wahrscheinlich es zu einem früheren Zeitpunkt war. Die Qualifikation eines Ereignisses als mehr oder weniger wahrscheinlich dient nur als Orientierung beim Eingehen eigener Risiken. Entscheidend dabei ist, dass derjenige, den Gewinn und Verlust betreffen, derselbe ist. Auch eine Gesellschaft kann konsensuell Risiken eingehen, zum Beispiel beim Autoverkehr, solange die vom Risiko Getroffenen prinzipiell dieselben sind wie die, die die Vorteile genießen. Das schließt nicht aus, dass dieses Risiko ungerechtfertigt und unvernünftig ist, wie dies beim heutigen Autoverkehr der Fall ist. Niemals aber kann es erlaubt sein, dass eine bekannte und feststehende Zahl von Menschen sich Vorteile verschafft auf Kosten des Risikos anderer Menschen, die überhaupt nicht gefragt werden. Der Wahrscheinlichkeitskalkül ist hier fehl am Platz. Niemand darf das Leben eines anderen verwetten, nur weil die Wahrscheinlichkeit eines günstigen Wettausgangs sehr hoch ist (siehe S. 8, 73).
Was nun die Gewinnung von Energie durch Kernspaltung betrifft, so ist alles, was ihre Befürworter gegenüber den Warnungen zu erwidern haben, der Hinweis auf die Unwahrscheinlichkeit möglicher Katastrophen. Ebendieses Argument aber zählt nicht. Und es zählt auch nicht der Hinweis auf die ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen für den gelagerten radioaktiven Abfall. Die schädigende Potenz bleibt über Jahrtausende erhalten. Wir wissen nicht, ob die wissenschaftlich-technische Zivilisation mit ihrer Kenntnis der Natur dieser Gefahren die nächsten Jahrhunderte überleben wird. Wir wissen nicht, ob unseren Nachfahren an diesen Kenntnissen gelegen ist. Wir wissen nicht, wie lange die staatlichen Einrichtungen existieren, die den Schutz vor Einbrüchen in
Weitere Kostenlose Bücher