Nach uns die Kernschmelze
die Gefahrenzone gewährleisten. Wir haben nicht das Recht, unseren Nachkommen die Erprobung alternativer Formen gemeinschaftlichen Lebens unmöglich zu machen durch den Einbau nichttransformierbarer Sachzwänge. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass der prozentuale Anteil derjenigen, die über die theoretischen Voraussetzungen zur Erkenntnis und Bewältigung der genannten Gefahren verfügen, an der Weltbevölkerung ständig sinkt. Eine Wiederholung des zivilisatorischen Niedergangs nach Analogie der Völkerwanderungszeit ist daher nicht ausgeschlossen.
Es wird in diesem Zusammenhang nun darauf hingewiesen, dass ohne diese zusätzliche Energiequelle unser Wirtschaftssystem nicht zu erhalten sei und dass eine Konsumeinschränkung soziale Konflikte erzeugen würde, die vielleicht nicht gebändigt werden könnten.Das aber heißt doch: Um in den nächsten 30 Jahren nicht unseren Konsum einschränken oder unser Gesellschaftssystem modifizieren zu müssen, unterwerfen wir für Jahrtausende die kommenden Generationen dem Zwang, ihr Gesellschaftssystem so zu gestalten, dass es die von uns geschaffenen neuen Gefahrenquellen unter Kontrolle zu halten vermag. Diese Zumutung kann auf keine Weise gerechtfertigt werden. Der Hinweis auf die tödlichen Gefahren, die sich aus Energieverknappung und daraus resultierenden sozialen Konflikten in nationalem und internationalem Maßstab ergeben und die gegen jene anderen abgewogen werden müssten, ist unberechtigt.
Es gibt eine Tendenz, soziale Systemzwänge zu objektivieren und mit Naturzwängen gleichzusetzen. Eine solche Gleichsetzung provoziert aber geradezu revolutionäre Bestrebungen. Sie ist nämlich gleichbedeutend mit der Behauptung, das soziale System, in dem wir leben, sei nicht ein frei gewähltes und anderen vorgezogenes, daher auch nach Maßgabe von Einsichten modifizierbares, sondern das Ergebnis von naturwüchsigen Zwängen. Wenn das stimmt, entfällt jedes sittliche Argument gegen den Versuch, ein solches System durch eines zu ersetzen, das in Aussicht stellt, Ausdruck objektiver menschlicher Selbstbestimmung zu sein. Spätere Generationen müssten urteilen: Man hat uns neue Naturzwänge hinterlassen, weil man den eigenen Willen, so und nicht anders zu leben, unehrlicherweise für einen Naturzwang ausgegeben hat. Der Freiheitsspielraum muss im Übrigen, wenn er bewusst realisiert wird, bei Verzicht auf atomare Energiegewinnung keineswegs zu einer Aufgabe der rechtsstaatlichen Ordnung führen. Die Leugnung dieses Spielraums geht nämlich im Allgemeinen Hand in Hand mit einer nahezu mythologischen Annahme über eine prästabilierte Harmonie menschlicher Bedürfnisse und bestimmter wissenschaftlicher Entdeckungen. Dass in dem Augenblick, wo die traditionellen Brennstoffe der Welt zur Neige gehen, die Atomspaltung erfunden wurde, ist und bleibt ein kontingentes Faktum. Es muss erlaubt sein, gegenüber solchen nicht innerlich notwendigen Verknüpfungen die Frage zu stellen: Was wäre, wenn man diese Erfindung nicht gemacht hätte? Vermutlich wäre es nicht das Ende der Menschheit oder das Ende der Zivilisation gewesen. Gerade freie Gesellschaftssysteme haben eine ungeheure Kapazität, natürlichen Herausforderungen zu begegnen. Diese Kapazität liegt heute brach, weil der Ausweg der Atomenergie, in dessen Erarbeitung bereits viel investiert wurde, den Druck der Herausforderung und damit auch die Nötigung zu jener intellektuellen Energieentfaltung beseitigt, die erforderlich ist, um langfristig das Energieproblem auf eine die Nachwelt weniger belastende Weise zu lösen. Es ist daher nötig, an die Stelle der weggefallenen Nötigung durch akute Notlage eine Nötigung durch sittliche Verantwortung zu setzen.
Ein Letztes ist noch zu bedenken. Die Legitimität des Staates und die Loyalitätspflicht der Bürger sind nicht unbedingt und unbegrenzt. Im ersten Teil dieser Ausführungen waren einige Minimalbedingungen genannt worden, denen ein Staat genügen muss, um für seine Zumutungen an seine Bürger Gehorsam zu verlangen. Nicht jede Mehrheitsentscheidung erfüllt diese Bedingung. Nur wo die Subjektstellung der Betroffenen durch die Entscheidung nicht negiert wird, kann auch der Gehorsam der Dissentierenden verlangt werden. Wo irgendjemandes Subjektstellung negiert wird, da steht es jedem frei, diesem Betroffenen und aus der Loyalitätspflicht Entlassenen beizustehen und seinerseits die Loyalität aufzukündigen. Wo Juden von Staats wegen zum Mord freigegeben
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