Nach uns die Kernschmelze
werden, da sind nicht nur Juden ihrer Loyalitätspflicht ledig, sondern jedermann, der diesen beizustehen wünscht. Für diejenigen, die in der industriellen Nutzung der Kernspaltung einen Angriff auf die Integrität des menschlichen Lebens sehen, stellt sich daher die Loyalitätsfrage. Es kann niemandem zugemutet werden, Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren, wo diese seiner Überzeugung nach Tod oder schwere gesundheitliche Schädigung seiner Kinder bedeuten.
Nun gibt es freilich auch unsinnige Überzeugungen. Der Staat muss über solche hinweggehen und denjenigen, der unter Berufung auf sie gegen die Gesetze handelt, bestrafen. Von solchen unsinnigen Überzeugungen kann jedoch hier nicht die Rede sein. Was die Gefährdung durch die Kernenergie betrifft, so ist die Diskussion unter denen, die der Argumentation fähig sind, noch nicht zu Ende. Zwar müssen politische Entscheidungen immer getroffen werden, ehe die diesbezüglicheDebatte durch Konsens ihr Ende gefunden hat. Und in einem gewissen Sinne gilt natürlich auch, dass jede Entscheidung irreversibel ist, das heißt, dass später nicht genau an den Ausgangspunkt des Weges, der auf diese Entscheidung folgte, zurückgegangen werden kann. Dennoch gibt es hier einen schwerwiegenden Unterschied. Im ersten Teil dieser Ausführungen war gesagt worden, dass die Zumutbarkeit, Entscheidungsergebnisse zu akzeptieren, daran hängt, dass die Debatte über deren Richtigkeit weitergehen kann. Und diese Debatte muss zu einem späteren Zeitpunkt auch zu einer Revision führen können. Die Revision kann – wie gesagt – nicht darin bestehen, an den Ausgangspunkt zurückzukehren. Aber an jeder Wegstelle gibt es neue mögliche Gabelungen. Eine Richtung kann verlassen und eine andere eingeschlagen werden. Die früheren Entscheidungen sind stets nur der Ausgangspunkt, von dem aus wir weitere freie Entscheidungen treffen können, Entscheidungen, die sogar den Intentionen der früheren entgegengesetzt sein können. All das ist in diesem Fall nicht gegeben. Die Entfesselung radioaktiver Strahlung schafft einen Umstand, der durch keinerlei spätere Entscheidung ungeschehen gemacht werden kann. Die kommenden Generationen haben das Faktum als ein unveränderbares und als solches unfruchtbares Datum in ihr Leben aufzunehmen. Wer sich mit diesen künftigen Generationen in einer geschichtlichen Solidarität weiß, kann daher einen solchen Mehrheitsentscheid nicht einfach akzeptieren, weil er ihn als Überschreitung der Kompetenz einerMehrheit betrachten muss, die doch gegenüber den Betroffenen stets in der Minderheit bleibt. Wo es sich aber um einen Fall handelt, bei welchem Dissens Aufkündigung der Loyalität zur Folge haben kann und wo zur dissentierenden Minderheit sachkundige Fachleute gehören, da hat der Staat den Legitimitätsverlust selbst zu verantworten, wenn er das Ende der Debatte unter den Sachkundigen nicht abwartet, sondern vorschnell vollendete Tatsachen schafft.
Der sachkundige Laie bildet sich sein Urteil, indem er die Argumente der Fachleute anhört und abwägt. Dabei muss er heute angesichts des Ausmaßes und der Irreversibilität der Schäden eine neue Beweislastverteilung fordern. Nicht die Schädlichkeit, sondern die Unschädlichkeit muss glaubhaft gemacht werden. Wann ist sie glaubhaft gemacht? Für den Laien dann, wenn praktisch alle Fachleute sich haben überzeugen lassen. Der Laie hat das Recht, der Überzeugungskraft eines Arguments so lange zu misstrauen, wie eine durch Qualifikation oder Zahl nennenswerte Minderheit von Fachleuten durch das Argument nicht überzeugt wurde. In den theologischen Moraldiskussionen des 17. Jahrhunderts lehrte die Schule des sogenannten Tutiorismus, eine Handlung sei dann stets unerlaubt, wenn ein gewichtiges und unwiderlegtes Argument gegen ihre Erlaubtheit spräche. Die Schule des Probabilismus hingegen erklärt jede Handlungsweise für subjektiv sittlich gerechtfertigt, die durch einen anerkannten Autor der Moraltheologie gebilligt werde, sogar dann, wenn der Handelnde dieÜberzeugung dieses Autors selbst nicht teile. Pascal hat diese Auffassung zu Recht mit beißender Ironie erledigt. Hinter ihr stand eine neuzeitliche Interpretation der alten Juristenregel: In pari causa vel delictu potior est conditio possidentis . (»Bei gleicher Rechtslage in einem Streitfall ist die Situation dessen, der sich im Besitz einer Sache befindet, derjenigen dessen überlegen, der den Besitz beansprucht.«) Die neuzeitliche
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