Nach uns die Kernschmelze
empirischen Überprüfung führten zu neuen Erkenntnissen. Ein Ergebnis dieser vernunftbasierten Wissenschaft in der Neuzeit ist die Atomenergie. Hat sich die Vernunft ad absurdum geführt?
Nein. Die Entdeckung der Kräfte, die die Welt im Innersten – im Kern – zusammenhalten, ist eine ungeheuerkostbare Entdeckung. Ich glaube überhaupt nicht, dass diese Entdeckung etwas Unerlaubtes wäre, aber ihre Anwendung ermöglicht, wie alle Menschendinge, auch einen schlechten Gebrauch.
Deshalb ist es falsch, wenn Kirchenleute sagen, die Technik selbst ist gut, man darf sie nur nicht zum Schlechten benutzen. Nein: Dieser Technik sind schon schlechte Gebrauchsweisen immanent. Da die Technik gerade in der Atomforschung eng mit der Wissenschaft zusammenarbeitet – weil der Wissenschaftler seine Fortschritte nur machen kann, wenn er eine hochentwickelte Technik zur Seite hat –, gerät der Erkenntniswille auch ins Zwielicht. Der Erkenntniswille ist und bleibt legitim, aber mir scheint, dass man überall dort, wo es um Anwendung geht, um Technologie also, mit den Erkenntnissen einen sehr keuschen Umgang einüben muss. Nicht alles, was der Erkenntnis dient, dient dem Menschen; weder in der Atomforschung noch in der Embryonenforschung. Erkenntnisdrang rechtfertigt nicht die Vernichtung von Kindern im Mutterleib, er ist kein absoluter Wert.
Wolfgang Wicklers Buch »Die Biologie der Zehn Gebote« beginnt mit dem Satz »Der Mensch ist dasjenige Geschöpf, das mehr will, als es kann, und mehr kann, als es soll.«
Wunderbar. Sehr schön.
Braucht der Mensch Kriterien einer Selbstbeschränkung?
Ja, nur müssen wir genau fragen, was das bedeutet. Müssen wir unser Streben, Wahrheit zu erkennen, bremsen? Ich denke nicht, aber wir müssen es immer in Beziehung setzen zu den Kosten. Hier sind die Kosten Menschenleben. Es gibt eben Forschung, die man nicht betreiben darf. Zum Beispiel wenn für eine Forschung Embryonen gebraucht werden. Das geht nicht, denn das hieße Dinge zu tun, die dem Menschen nicht erlaubt sind. Genau das ist auch bei der Atomenergie zu fragen: Ist der Preis für den Fortschritt in der Energiegewinnung nicht zu hoch?
Sie sind Christ und Philosoph. Sind christliche Kriterien für eine Ethik der Wissenschaften, eine Ethik der Forschung entscheidend?
Zuerst einmal: Was hier verlangt werden muss, kann von jedem denkfähigen Menschen, der nicht unter völliger moralischer Defizienz leidet, erwartet werden. Allerdings gibt es eben Denkfiguren wie den Utilitarismus, die uns moralisch korrumpieren können. Und diese Denkfiguren machen auch vor den Kirchen nicht Halt. Jahrzehntelang sind auch katholische Theologen dem Utilitarismus und seiner Behauptung angehangen: Es gäbe gar keine Handlungen, die dem Menschen an sich verboten sind. Sondern man müsse immer nur fragen, ob sie einem guten Zweck dienten. Das ist das Prinzipdes Utilitarismus. Das ist sowohl mit der Vernunft unvereinbar als auch mit dem Glauben.
Was für eine Anbindung braucht eine Vernunft, die dem Menschen nachhaltig dient?
Das ist eine Vernunft, die in Generationen denkt und die Erhaltung des Menschengeschlechts zum Ziel hat. Einer Geisteshaltung, die sich nicht um das Wohl kommender Generationen schert, muss eine Barriere vorgeschoben werden. Und dann wird der Glaube zu einer wichtigen Leitplanke, die dem Streben nach Wissen als Selbstwert und dem Ausreizen des Machbaren Einhalt gebietet. Der Glaube geht dann der Vernunft voraus, und das erst stellt das Vertrauen in die Vernunft wieder her. Denn die letzten 150 Jahre haben zu einer wachsenden Skepsis gegenüber der Fähigkeit der Vernunft geführt. Es gibt eigentlich heute nur einen Verteidiger der Vernunft: Das ist der christliche Glaube. Diese Erkenntnis hat für den Menschen eine verpflichtende, bindende Kraft. Dazu allerdings muss man wieder glauben, dass die Vernunft eine göttliche Wurzel hat.
Über den Autor
Robert Spaemann, geboren am 5. Mai 1927 in Berlin, studierte Philosophie, Romanistik und Theologie in Münster, München und Fribourg, promovierte 1952 in Münster, war Verlagslektor und wissenschaftlicher Assistent und habilitierte sich 1962 für Philosophie und Pädagogik in Münster. 1962 bis 1992 lehrte er Philosophie an der TH Stuttgart und den Universitäten Heidelberg und München, wo er 1992 emeritiert wurde.
Er hatte zahlreiche Gastprofessuren inne und erhielt mehrere Ehrendoktorwürden. Träger des Karl-Jaspers-Preises 2001 der Stadt und der Universität
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