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Nach uns die Kernschmelze

Nach uns die Kernschmelze

Titel: Nach uns die Kernschmelze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Spaemann
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Interpretation bestand darin, dass der Mensch als possidens in bezug auf seine Willkürfreiheit gedacht wird. Wer daher diese Freiheit einzuschränken beansprucht, hat die Beweislast. Und der Beweis kann erst als zwingend gelten, wenn kein Sachkundiger mehr widerspricht.
    Wir sind uns heute bewusst geworden, dass es einen Besitz gibt, der jenem der Freiheit vorausliegt: die Integrität jener Natur, in deren ökologischer Nische Leben und Freiheit selbst angesiedelt sind. Damit aber kehren sich Präsumption und Beweislast erneut um. Die Begründungspflicht trägt wiederum der, der diesen Besitz antasten will. Der Beweis für die Notwendigkeit und die Harmlosigkeit des Eingriffs aber kann erst dann als erbracht gelten, wenn kein Sachverständiger mehr widerspricht. Die probabilistische Argumentationsfigur führt also in dieser unvermeidlichen Umkehrung notwendigerweise zu einem neuen Tutiorismus, der plausibler ist als der alte. Angesichts der Anforderungen, die wir an einen solchen Beweis zu stellen verpflichtet sind, kann ein solcher zur Zeit nicht als erbracht gelten. Das ist das Mindeste, was jeder wird zugeben müssen. Daher ist dieInbetriebnahme von Kernkraftwerken zur Zeit ethisch nicht gerechtfertigt. Und da der Staat das Subjekt der Verantwortung für die langfristigen Nebenfolgen menschlicher Handlungen ist, muss er die Inbetriebnahme verhindern.
    Oder aber er muss – so füge ich nach über 30 Jahren wieder hinzu – ihre baldestmögliche Abschaltung veranlassen.

2.  
Ethische Aspekte der Energiepolitik (1980) 2
    Die Frage nach den Formen der Energiebeschaffung in unserem Land, in Europa und in der Welt kann unter vielerlei Aspekten erörtert werden und wird es ja auch: unter dem Aspekt der langfristigen Ertragsaussichten der in der Energieversorgung tätigen Unternehmen; unter dem Aspekt der Existenzsicherung der Menschen auf einem bestimmten Niveau oberhalb des Existenzminimums; unter dem Aspekt der Effizienz, d.h. des Vergleichs der direkten und indirekten Kosten; unter dem Aspekt der Erhaltung und Verbesserung der Handlungsspielräume der Menschen; unter dem Aspekt der Betriebssicherheit, der Gefährdungssicherheit, der Stabilität der politischen Ordnung sowie der außenpolitischen Sicherheit; ferner unter dem Gesichtspunkt der Umweltfreundlichkeit, unter dem der Innovationsoffenheit, unter dem der internationalen Verteilungsgerechtigkeit.
    Unter all den genannten Aspekten kam kein besonderer »moralischer« und »ethischer« Aspekt vor. Er durfte auch nicht vorkommen, denn dann hätte man die anderen gar nicht mehr zu nennen brauchen. Die Eigentümlichkeit des ethischen Aspekts ist es nämlich, dass er gar keine konkurrierenden Gesichtspunkte duldet. Wenn jemand sagen würde: »Die Handlung x zu begehen ist zwar unmoralisch, aber in diesem Falle gibt es doch übergeordnete Gesichtspunkte, die es erforderlich machen und daher rechtfertigen, x zu tun«, dann wüsste er gar nicht, was die Worte »moralisch« und »unmoralisch« bedeuten. Sie sind gleichbedeutend mit »gerechtfertigt« und »ungerechtfertigt«. Jemand, der einen Betrug, der ihm eine Million einbringt, aus moralischen Gründen ablehnt, bei 100 Mio. aber findet, dass hier der moralische Aspekt vielleicht zurücktreten müsse, hatte auch bei der ersten Zurückweisung gar nicht wirklich einen moralischen Grund. Denn einen moralischen Aspekt berücksichtigen heißt, ihm den ausschlaggebenden Rang einräumen. Es unterscheidet diesen Gesichtspunkt von allen anderen, dass man ihn überhaupt ganz aus dem Auge verliert, wenn man ihn an den zweiten Platz setzt. Die Bedeutung der Worte »gut« und »böse« schließt es aus, dass es aus irgendeinem Grunde vielleicht doch gut sein könnte, das Böse zu tun.
    Nun tun wir tagaus, tagein Böses. Schlimmer noch: Wir gestehen es uns nicht ein, sondern erfinden allerlei Theorien, die beweisen sollen, dass wir in Wirklichkeit gut handeln. Oder, was auf dasselbe hinausläuft: Wir tun das Böse mit einem gewissen tragischen Pathos. Wir geben es als besonders heroischen Akt der Verantwortung aus, dass wir bereit sind, »Schuld auf uns zu laden«.Das kann man von Politikern manchmal hören. Das ist natürlich eine Wortverdrehung. Entweder wir taten, was wir, nach richtiger Abwägung aller Gesichtspunkte, tun mussten, und dann haben wir gerade keine Schuld auf uns geladen; oder aber wir haben eben nicht die richtige Rangordnung der Güter berücksichtigt, und dann war unser Schuldigwerden weder

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