Nach uns die Kernschmelze
alles, was wir uns verbieten sollten, muss von Staats wegen verboten werden, dann stimme ich ihm zu. Aber die Frage, was gut und böse ist, folgt weder aus staatlichen oder kirchlichen Gesetzen noch aus den Büchern von Ethik-Professoren, sondern aus der Natur der Sache. Das Absinken in die Beliebigkeit ist gleichbedeutend mit einem Verlust an Humanität. Und ein sensibles Gewissen ist etwas ganz anderes als Skrupulantentum.
Wenn wir Sie richtig verstanden haben, sagen Sie also: Nicht alles, was die Natur der Sache gebietet, muss auch rechtlich durchgesetzt werden.
Natürlich möchte ich nicht alles juristisch verboten sehen, was schlecht ist. Andererseits müsste ein gerecht denkender Mensch ein Interesse daran haben, dass man ihm – wo die Rechte anderer betroffen sind – die Grenzen von außen setzt. Nehmen Sie die Umweltverschmutzung durch die Industrie. Es ist eine Überforderung der Industrie, ihr zu sagen, sie solle verantwortlich mit der Umwelt umgehen. Ihr verantwortlicher Umgang mit der Umwelt besteht im Respektieren der Gesetze. Oder denken Sie an den Wissenschaftler. Der hat nun einmal ein gewisses elementares Interesse daran zu experimentieren. Und die Grenzen dafür müssen ihm von außen formuliert werden. Ich habe auch ein Interesse, in meiner eigenen Institutsbibliothek die Bücher einfach ohne viel Umstände mitzunehmen – mit der Folge, dass sie den Studenten fehlen würden. Darum bin ich dafür, dass sich die Bibliothekskontrolle auch auf mich erstreckt. Wenn der Wissenschaftler, der mit Tieren experimentiert, darauf besteht, dass er selbst die Grenzen seiner Tätigkeit bestimmen sollte, so ist das unvernünftig. Ein anständiger Richter schließt sich selbst wegen Befangenheit aus, wenn ein Interessenkonflikt vorliegt.
Welche Rolle weisen Sie hierbei der Philosophie zu? Hat sie überhaupt eine Chance, von den Einzelwissenschaften gehört zu werden?
Es ist offenkundig, dass die Einzelwissenschaftler heute die Philosophie mehr als früher bemühen. Ständig wird an Philosophen appelliert, irgendwelche Belehrungen zu geben. Dabei soll die Philosophie gar nicht so sehr belehren. Das hat Sokrates auch nicht getan, sondern er hat die Leute dazu gebracht, selbst darauf zu kommen. Ein Philosoph ist nicht wie ein religiöser Lehrer, der eine Offenbarung verkündet. Das Groteske nun ist: Wenn die Philosophen dennoch einmal etwas Maßgebendes sagen, was nicht ohnehin schon zum allgemeinen Konsens gehört, ist der Ärger groß. Die Einzelwissenschaftler trösten sich dann, indem sie sagen: Naja, das ist ja nur die Option der Philosophen, die zählt eigentlich nicht. Es ist paradox: Wir Philosophensollen ständig reden, dürfen aber nicht erwarten, dass uns irgendjemand hört.
Ganz so pessimistisch braucht man es womöglich nicht zu sehen. Immerhin hat der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth darauf hingewiesen, dass auf Tagungen und Kongressen zunehmend Philosophen die Wortführer sind. Könnte darin nicht doch so etwas wie eine Renaissance der Philosophie zum Ausdruck kommen?
Es wäre ja schön, wenn es so wäre. Die Philosophie darf sich dabei natürlich nicht in die Gefahr begeben, ihre Nachdenklichkeit zu opfern. Der Erfolg kann nur darin bestehen, Nachdenklichkeit zu wecken. Wenn Philosophen heute mehr denn je gefragt werden, hängt es wohl damit zusammen, dass mehr Menschen das Gefühl haben, dass die sogenannten Sachzwänge – wie ich am Anfang sagte – eben doch nur Sachzwänge unter gegebenen Voraussetzungen sind. Die Frage aber, welche Sachzwänge wir überhaupt akzeptieren sollten und welche nicht, scheint so recht in niemandes Kompetenz zu fallen. Da tauchen dann die Philosophen auf. Odo Marquard hat unsere Zunft einmal definiert als die »Inkompetenz-Kompensations-Kompetenz«. Nicht, als seien Philosophen die eigentlich Kompetenten. Aber sie sind im Umgang mit Inkompetenz geübter als andere und hören nicht auf nachzudenken, wenn ihre professionelle Kompetenz erschöpft ist. Vielleicht ist es das, was die Menschen heute interessiert.
4.
Nach uns die Kernschmelze 5
Bei Rechtsstreitigkeiten ebenso wie bei politischen Entscheidungen, aber auch bei den fundamentalen Optionen der Metaphysik spielt die Verteilung der Begründungspflichten eine entscheidende Rolle. Diese Pflichten sind nicht symmetrisch verteilt. Wer einen bestehenden Zustand zu ändern wünscht, trägt die Begründungspflicht. Er muss die Vernünftigkeit und Berechtigung des Status quo nicht
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