Nachdenken ueber Christa T.
zerfallend in zwei Hälften, wirtinnenhaft die eine, den Anfechtungen der Menschenfreundlichkeit ausgesetzt die andere, also ausspielbar gegen sich selbst. Sie erkennt sich nicht wieder, wenn sie aus dem Zimmer geht. Nun trägt sie eigenhändig den Spruch hinaus, worauf hat sie sich da eingelassen? Schnell holt sie einen Hammer und schlägt einen Nagel auf ein freies Plätzchen in der langen Korridorwand, da wird der Spruch hängen, an sichtbarer Stelle zwischen den anderen Schildern: Wann jeder ihrer Untermieter zu Hause zu sein hat, allein, versteht sich, wann gutwillig das Licht zu löschen, wie oft die Toilette zu benutzen ist und welcher Wasserverbrauch für welchen Zweck angemessen erscheint.
Bürger, schützt eure Anlagen, sagt Christa T. und lacht der Dame Schmidt ins Gesicht. Vergebens, natürlich. Denn niemand kann auf die Dauer in der Welt leben, wie sie nun mal ist, ohne genau zu wissen, was verboten ist und was nicht. So tue ich meinen Untermietern etwas Gutes und nehme ihnen den Zweifel ab.
Bei der Dame Schmidt hat Christa T. drei Jahre gewohnt.
5
Wir wissen nicht viel über diese Jahre, denn man weiß nicht wirklich, was noch nicht ausgesprochen ist – die Möglichkeit, durch Aussprechen zu verfestigen, mit eingerechnet. Das eigene Zögern belehrt mich, daß noch nicht die Zeit ist, flüssig und leicht über alles und jedes zu berichten, wobei man anwesend war oder es doch hätte sein können. Warum dann aber überhaupt? Warum nicht schweigen, wenn man sich für befangen erklären muß?
Nun ja – wenn es sich um eine Wahl gehandelt hätte. Sie ist es ja, Christa T., die mich hineinzieht. Der Umstand, daß sie wirklich gelebt hat und wirklich gestorben ist, weitgehend unerkannt, ist ja alles andere als erfunden. Jetzt, wenn ich mir Zeit nehme aufzublicken, sehe ich sie vor mir hergehen, nie dreht sie sich um, aber folgen muß ich ihr wohl, hinunter, zurück. Auch wenn ich zu ahnen beginne, worauf das alles hinausläuft und was sie mit mir vorgehabt hat, von Anfang an. Als von allen Beispielen – denn nichts anderes ist schreiben als: Beispiele anbieten – gerade sie sich aufdrängte. Sie, Christa T., auf die doch keines der rühmenden Worte paßt, die unsere Zeit, die wir mit gutem Recht hervorgebracht haben. Obwohl manches von ihnen ein wenig paßt, manches sogar stärker, wenn auch in einem anderen als dem landläufigen Sinn. Ach, hätte ich die schöne freie Wahl erfundener Eindeutigkeit ...
Nie wäre ich, das möchte ich doch schwören, auf sie verfallen. Denn sie ist, als Beispiel, nicht beispielhaft, als Gestalt kein Vor-Bild. Ich unterdrücke die Vermutung,daß es nicht anders erginge mit jedem wirklich lebenden Menschen, und bekenne mich zur Freiheit und zur Pflicht des Erfindens. Einmal nur, dieses eine Mal, möchte ich erfahren und sagen dürfen, wie es wirklich gewesen ist, unbeispielhaft und ohne Anspruch auf Verwendbarkeit.
Christa T. mußte sich damals jahrelang über sich selbst getäuscht haben, und sie hat dafür bezahlt, wie ein Mensch mit starkem Wirklichkeitssinn Täuschungen aller Art bezahlt, am bittersten die über sich selbst. Mir ist es nicht aufgefallen, ich fand es natürlich, daß sie sein wollte wie alle. Nachträglich bin ich über ihre Tagebücher erschrocken. Ich könnte mich fragen, warum ich nichts bemerkt habe, oder fast nichts. Hatten wir uns nicht wiedergefunden? Hatten wir nicht, bei dieser Wiederbegegnung, am Ende die richtigen Worte, jedenfalls das richtige Lachen gehabt? Überraschung, Freude? Und Vertrautheit? Gewiß. Bis zu einem gewissen Grad. Da ich am Leben bin und sie nicht, kann ich bestimmen, worüber gesprochen wird, worüber nicht. Das ist die Rücksichtslosigkeit der Lebenden gegenüber den Toten. Was wir unser gutes Recht nennen: das Recht des Nichtwissenwollens oder des Nichtsagenmüssens. Ein gutes Recht.
Vielleicht sollte ich, wie die Dinge liegen, die Verantwortung nicht allein übernehmen. Ich könnte Zeugen aufsuchen, die, wie es den Gefährten einer zu früh Verstorbenen angemessen ist, noch am Leben sind. Könnte in die Stadt fahren, in der wir gemeinsam studierten. Über den Platz vor der Universität gehen. Wenn mich nicht alles täuscht, würde ich da jetzt Blumenrabatten finden, nichts Selbstangelegtes wie unsere unbeholfenenBeete in unserem Patenkindergarten, auf denen Günter, der sommersprossige Günter, verbissen Tomaten und Feuerbohnen zog. Ich werde lachen müssen. Der Staub, das wird mir auffallen, der damals über den
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