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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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ihn nicht wird lesen wollen? Was ich verstehen würde. Gewiß, man kann auch aus Stärke schweigen. Doch es gibt Narben, die nur noch schmerzen, wenn man zu wachsen gezwungen ist. Soll man sich still verhalten aus Angst vor diesem Schmerz?
    Warum nur habe ich sie damals nicht vermißt? Womit waren wir denn so sehr beschäftigt?
    Ja, auf Versuchungen hat sie sich verstanden. Damals also ist sie in der Versuchung gewesen zu gehen. Da sie in der Welt nicht zweifeln konnte, blieb ihr nur der Zweifel an sich. Die Furcht, das könnte ihre Welt ein für allemal nicht sein. Die Unvermeidlichkeit des Bestehenden hat ihr angst gemacht. Da hat sie sich auf Zeichen, fast wortloses Klagen verlegt: Ein Kind. Später leben. Ach, tüchtig sein. Festhalten. Durchkommen ...
    Ganz gerne hätte ich den Brief ausgelassen, oder wenigstens gemildert, aber was hätte es mir genützt, da ich ihn kannte? So hat er sich wie von selbst an die Stelle gesetzt, die ihm zukommt. Meine Abwehr ist nicht verschwunden, aber beiseite gerückt. Dies ist also, unvermutet, der Ort, ihrer Herr zu werden.
    Von Krankheit kann man immer sprechen. Todeswunsch als Krankheit. Neurose als mangelnde Anpassungsfähigkeit an gegebene Umstände. So der Arzt, der das Attest für die Universitätsbehörden schrieb. Am besten, mein Fräulein, Sie kommen zu mir in die Therapie. Sie werden begreifen müssen, worauf es ankommt. Bei Ihrer Intelligenz ... Sie werden sich anpassen lernen.
    Christa T. schickte das Attest an das Dekanat und sah den Arzt nicht wieder. Sie fuhr in das Dorf zurück. Sie legte den Stoß Bücher auf die linke Seite des Tisches, sie kontrollierte, ob die Aussicht dieselbe geblieben war, siebzehn Pappeln, eine Handbreit höher als vor vier Jahren. Sie heftete in Augenhöhe einen Tagesplan an die Wand, ihre Tage sollten ein Gerippe haben, das sie hielt.
    Nachts träumt sie. Sie gleitet in Schlaf, wie man in einem Fahrstuhl auf Grund fährt, nur daß das Wassernicht dunkler wird, sondern heller, am Ende taghell, wie flüssige Luft. Man stößt sich ab und schwebt: Zu schön, um Schlaf zu sein. Sie beschließt, schlafend: Ich schlafe nicht. Daß ich schwebe, ist nicht verwunderlich, wenn man es sich so lange gewünscht hat. Was geschieht, soll gelten. Kostja, da ist er ja, wie sich alles fügt. Wir treiben aufeinander zu, sieh selbst, daß ich keinen Finger rühre. Wie wir es uns immer gewünscht haben. Jetzt mußt du mich noch ansehen, das weißt du sicher, es gehört dazu. Gleich wirst du es tun. Wohin blickst du denn?
    Dann sah sie das Mädchen. Kleine Schwester, dachte sie zärtlich. Wie blond sie ist, wie schutzlos. Oh, wie gefährlich in all ihrer Schutzlosigkeit, daß er sie immer ansehen muß. Daß ich aus dem Weg gehen muß, beiseite treten. Weinen. Kann man im Schlaf denn weinen? Ich schlafe ja, und ich kann und kann nicht wach werden, obwohl ich das Wichtigste vergessen habe – was war es bloß? Die Tür verriegeln, das ist es. Dann käme der Schmerz nicht herein. Aber er kommt, diese ganze flüssige Luft ist in Wirklichkeit Schmerz. Ich schlafe, und was geschieht, gilt.
    Aber sie war nicht geschaffen, sich aufzugeben, wenn sie auch die Fähigkeit hatte, geschlagen zu werden. Sie hatte auch eine zähe Kraft, wieder hochzukommen. Boden gewinnen, zentimeterweis. Das erste, sich der Kräfte zu versichern, die, trotz allem, geblieben sind. Die Pappeln, hinter denen jeden Tag die Sonne sinkt, ob ich es sehe oder nicht, ob es mich freut oder quält. Da sind auch die Kirschen wieder, da der Teich. Abends die Frösche. Kilometerweit fahren mit dem Rad über Land. An den Zäunen stehn und mit den Leuten reden.Etwas tun, mit meinen Händen arbeiten, daß ich es sehen kann: die Bank zimmern, die hier stehen bleibt und auf der noch meine Kinder sitzen werden. Das Beet umgraben, das Unkraut aus den Erdbeerreihen ziehn. Sinne, liebe Sinne .
    Sie gibt kaum Zeichen nach außen, alle Korrespondenz ist mir so lästig . Augentier, sagt sie zu sich. Warum kann der Verstand nicht sehen, hören, riechen, schmecken, tasten? Warum dieses Auseinanderfallen in zwei Hälften? Hätte ich einen Beruf, bei dem man anfassen kann, was man gemacht hat. Mit Holz umgehen müßte schön sein. Auch mit Wasser ...
    Sie geht, in tapfersten Stunden, so weit, sich nicht mehr nur zu verwerfen: Mein Denken ist dunkler, merkwürdig mit Empfindungen gemischt. Muß es deshalb falsch sein? Dann wieder, beim kleinsten Versagen, schrecklicher Rückfall: Wie dünn die Decke ist, auf der ich

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