Nachdenken ueber Christa T.
was nicht zusammengehört: den Menschen und die Sache, für die er eintritt, die nächtlichen unbegrenzten Träume und die begrenzten Taten im Tageslicht, Gedanken und Gefühle. Man sagte ihr, daß sie naiv sei, das wäre das mindeste. Frau Mrosow sagte es ihr, die Direktorin der Schule, an der wir unsere praktischen Übungen abhielten. Sie standen im Lehrerzimmer am Fenster, Kostja war dabei, aber er hielt sich im Hintergrund.
Übrigens ging es um den sommersprossigen Günter, es war eine alberne Affäre, jedenfalls hat Kostja sie zehn Jahre später in seinem Brief an Christa T. so genannt. Die Mrosow sei nun mal bei bestimmten Anlässen losgaloppiert wie ein alter Zirkusgaul, der die Trompete blasen höre, dagegen hätte niemand was machen können. Nun muß man aber wissen, was Christa T. natürlich wußte, daß Kostja und Günter alte Freunde warenvon ihrer Schulzeit her, aus ihrer gemeinsamen Kindheit in der Chemnitzer Gegend.
Aber von dieser Seite kommen wir an die Geschichte nicht heran. Denn eine richtige kleine Geschichte war es, wie ich jetzt merke, mit Einleitung, Hauptteil, Höhepunkt, Umschlag und schnellem Abfall, mit Kabale und Liebe, bloß wir haben es, da wir mitten darin steckten, nicht gesehen. Da sie erzählbar geworden ist, scheint sie hinter uns zu liegen ...
Kurz und gut: Die Liebe hatte den Günter zu Fall gebracht. Als wir Kostja mit der blonden Inge sahen, dachten wir natürlich, zwischen ihr und Günter könnte nichts Ernstes gewesen sein, damit beruhigten wir uns schnell, denn Liebe, das war unsere Überzeugung, ging gegen seine Natur. Ich weiß nicht, wie es mit der Liebe im allgemeinen ist – er blieb ja unverheiratet bis heute –, die blonde Inge jedenfalls schien nicht gegen seine Natur zu gehen. Da kam Kostja und nahm sie im Vorbeigehen mit, noch dazu als dritte zu einem Paar, das doch schon – seltsam oder nicht – feststand. Dies alles nach klassischen Mustern, Gott weiß, welche Beispiele Kostja dazu einfielen. Bloß Günter schien alles direkt zu nehmen, auch wenn man ihm nichts anmerkte – es sei denn, daß er noch eine Spur steifer und prinzipienfester wurde. Dabei muß er allmählich ganz außer sich geraten sein. Das aber bestritt Kostja Christa T. glatt ins Gesicht, am Fenster im Lehrerzimmer, in Gegenwart von Frau Mrosow. Er hat den Kopf verloren, sagte Christa T., und ich denke, du weißt, warum. Worauf Kostja schwieg und Frau Mrosow, die jede Handlung und jede Regung Kostjas gespannt verfolgte, eben jenen Satz sagte. Sie sind naiv, und das ist das mindeste.
Sie sah nämlich in Günters Affäre alle Zutaten zu einem Fall, und sie wußte wirklich nicht, was sie hindern sollte, diese Zutaten zusammenzurühren und vor die Gruppenleitung zu bringen, schon fertig angerichtet, so daß man den Brei nur noch schlucken konnte. Was dann auch geschah. Günter wurde seiner Funktion enthoben. Vor der Versammlung sagte er, ja, er habe große Fehler gemacht, ja, die Kritik bestünde zu Recht, er habe es erst nicht einsehen wollen. Er werde versuchen, die tieferen Ursachen für sein Versagen in sich selbst zu suchen. An jenem Abend ging es Christa T. zum erstenmal um Günter, so lange war es um Kostja gegangen, immer nur um ihn.
Übrigens haben wir alle dabeigesessen, auch Kostja, auch die blonde Inge und Christa T., denn Günter hielt seine Prüfungsstunde vor großem Auditorium. Wir beneiden ja manchmal die Alten um ihre großen Gelegenheiten, die Reden auf dem Forum, »Doch Brutus ist ein ehrenwerter Mann«, die Duelle vor allem, was damals zur Welt gehörte, »Den Dank, Dame, begehr’ ich nicht«. Und verließ sie zur selbigen Stunde. Uns bieten die großen Gelegenheiten sich an, wir ergreifen sie oder lassen sie vorbeigehen – aber niemals trauen wir sie uns zu. Auch Günter hat sie sich nicht zugetraut, das ist verständlich: Was wäre eine Prüfungsstunde gegen die Rede Mark Antons auf dem Forum? Was Kostja gegen Brutus, was die Klasse 11 der Pestalozzi-Oberschule und Günters Mitstudenten gegen die versammelten Bürger von Rom? Günter hatte den Ablauf seiner Stunde genau nach den Ausarbeitungen geplant, die Frau Mrosow ihm gegeben hatte. Und auch die Schüler, schien es, kannten diese Ausarbeitungen. Jedenfallsgingen sie widerstandslos und willig auf das Frage-und-Antwort-Spiel ein, das unfehlbar zu dem Ziel dieser Stunde führen mußte. Das Ziel war aber: Arbeiten Sie anhand von Schillers »Kabale und Liebe« den Vorrang der gesellschaftlichen vor den persönlichen
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