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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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gehe. Wie lange noch?
    Niemanden geht sie um Hilfe an, kämpft um sich mit sich selbst, sieht auch keinen anderen Widersacher. Da mag sie so unrecht nicht gehabt haben. Sie weiß nun: Das kann Vorspiel gewesen sein, jetzt erst wird es ernst. Dieses Gefühl erreicht uns schubweise, der erste Schub schien sie umzuwerfen, der Schein trog.
    Anpassen lernen! Und wenn nicht ich es wäre, die sich anzupassen hätte? – Doch so weit ging sie nicht.
    Ein gewöhnlicher Sommer, der nicht verlorengehen darf. Sie hat so viele Sommer nicht mehr, wir haben kein Recht, ihr diesen zu entziehen. Sie selbst, da darf man sicher sein, hätte ihn nicht hergegeben. Da sollten wir nicht die Sicherheit haben, an ihm teilzunehmen, heute? Damals hat sie keinen Grund gesehen, auf sichaufmerksam zu machen, auch keine Möglichkeit, möchte ich annehmen. Wir hatten uns daran gewöhnt, nur auf starke Zeichen zu achten. Da mußte schon geschrien werden oder gestorben oder geschossen. Heute, obwohl doch die Zeit nicht stiller geworden ist, sehen wir eher eine Trauer, die nur in den Augen sitzt, oder eine Freude daran, wie einer geht. Wie sie läuft, Christa T., hinter dem riesigen weißroten Ball her, den der Wind den Strand entlangtreibt, wie sie ihn einholt, laut lacht, ihn packt, ihrer kleinen Tochter zurückbringt, unter unseren Blicken, die sie fühlt und mit einem Seitenblick beantwortet, nicht im Zweifel über unsere Bewunderung. Justus, ihr Mann, tritt auf sie zu, greift ihr ins Haar, zieht ihren Kopf nach hinten, he, Krischan. Sie lacht und schüttelt sich. Da können am ganzen Strand alle Leute zusehen, wie sie mit Klein-Anna Große-Schritte-Machen übt und dazu, braun und schlank, das ganze Meer, das leicht schäumt, und den blassen Himmel darüber als Hintergrund benutzt. He Justus, ruft sie.
    He Krischan.
    Ja, sagt sie zu uns. Am Meer wohnen!
    In der letzten Zeit, sagt Justus, muß sie oft an diesen verfluchten Spökenkieker gedacht haben, an den sie damals geraten ist. Er hat ihr angeblich gesagt: Sie sterben früh. Das hat sich festgehakt, du konntest nichts machen.
    Aber ich würde vielleicht etwas darüber in den Papieren finden, die er mir bringe. Für ihn sei es, sagte er, noch zu früh, sie anzusehen.
    Auch für mich war es zu früh, das mußte ich zugeben. Ich begann zu lesen, als Justus gegangen war, hörteauch den Tag nicht mehr auf und fing, als ich am Ende war, wieder von vorne an, Heft für Heft, Zettel für Zettel, Manuskript für Manuskript, in der Reihenfolge, in der sie geschrieben waren. Dabei verglich ich jeden Satz mit meiner Erinnerung. Auf das Äußerste entmutigt, wollte ich von meinem Vorhaben zurücktreten und, wie es das Natürlichste war, Trauer walten lassen.
    Nur stand es mir nicht mehr frei, davon war schon die Rede. An die unbekannte Hinterlassenschaft einer längst vergangenen, dem Bewußtsein der Nachwelt entrückten Gestalt zu geraten kann ein seltener Glücksfall sein. Das Vermächtnis einer – wenn es nur mit rechten Dingen zugegangen wäre – Lebenden auf dem Hals zu haben, schien mir damals ein besonderer Unglücksfall, nicht gerade aufgehellt durch den Doppelsinn des Wortes »entledigen«: Ich entledige mich ihrer, ich rücke sie weg, unaufhaltsam geht sie ein in den Namen, den ich ihr gegeben habe: Christa T., während ich mit der Bitterkeit fertig werden muß, daß Leben – Leben ist und Papier bleibt Papier, schwacher Abdruck. Wen bedrückte das nicht?
    Dann wollen wir schon unsere Trauer von uns abtun und sie nehmen und sie wirklich vor uns hinstellen, die längst Verblichene, Gestalt aus fernen Tagen, dann wollen wir schon uns zu staunen trauen: daß es sie gab. Dann wollen wir sie schon annehmen, die angegilbte Hinterlassenschaft: Was die Zeit nicht kann, übertragen wir unseren Gedanken. In Gedanken nämlich sehen wir ihr schon eine ganze Weile zu, wie es sie umhertreibt, auf ein Ziel zu, das sie juckt, aber noch widersteht sie. Wir aber, zusehend, schieben die Unterlippe vor, denn wir finden, was sie vorhat und also gewißtun wird – denn diese Art unvernünftiger Vorhaben richtet man sich immer ein, frag bloß nicht, wie, frag bloß nicht, mit welchen Ausreden bei sich selbst: Also, wir finden ihren Plan bedenklich. Da heißt es schon »Plan«, ist aber doch erst ein Gerücht in den Dörfern: In Niegendorf hat sich einer niedergelassen, der hat den Blick. Durch die Nase schnauben und meiner Wege gehen, nur daß dieses Gerücht gerade jetzt aufkommt oder gerade jetzt zu mir kommt, ist

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