Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
Motiven im Verhalten Ferdinands heraus.
    Dahin ist Günter nicht gekommen.
    Wir erinnerten uns später nicht mehr genau, wann es anfing. Vielleicht hat ihn schon jenes hübsche braunäugige Mädchen erbittert, das, ohne mit der Wimper zu zucken, die Luise Millerin ein bißchen überspannt fand, mit einem Wort: bürgerlich. Unglückliche Liebe sei, in der neuen Gesellschaft, kein Grund mehr, sich umzubringen. Alle waren sich einig: So weit hatten wir es schon gebracht. Ja, dies war wohl der Umschlagpunkt, von da an ging es rasend bergab, Günter hatte seine große Gelegenheit, und er ergriff sie. Wir alle haben ihn stürzen sehen, und er selbst, während er für die Tragödie in der modernen Liebe stritt, während er seine Schüler bis zum Unglauben verwirrte und Frau Mrosow bis zum Zittern empörte, er sah selbst auch, wie er fiel, und er versuchte nicht umzukehren. Er wußte, was er tat, er wartete nicht die Auswertung der Stunde ab, mit dem Klingelzeichen raffte er seine Bücher zusammen und ging.
    So kam Christa T. zu Frau Mrosow und Kostja ins Lehrerzimmer, aber Kostja war vor ihr dagewesen, und als Christa T. eintrat, fuhren die beiden auseinander. Frau Mrosow hing an Kostjas Lippen, jeder wußte es, und die besten Witze darüber machte Kostja selbst, bis keiner mehr Spaß darin fand, eine alleinstehende Frau, die hinter sich hatte, was keiner von uns sich überhauptnur vorstellen konnte, Proben bestanden hatte, die uns sagenhaft vorkamen, so eine Frau zu bewitzeln. Wir hatten auch zu schweigen, wenn sie sagte: Sie sind naiv, das ist das mindeste.
    Günter aber würde nicht als Günter abgeurteilt werden, sondern als Beispiel, wohin ein Mensch gerät, der dem Subjektivismus verfällt. So ist es auch gekommen, der Mensch Günter und der Fall des Subjektivismus wurden voneinander abgetrennt, und Frau Mrosow war die erste, die nach der Versammlung, nachdem alle Hände hochgegangen waren – auch meine, auch die von Christa T., von Kostja und von der blonden Inge –, Frau Mrosow war es, die zu Günter ging, ihm die Hand gab und ihn sogar um die Schulter faßte. Er hielt sich steif, aber er hielt sich.
    Soweit, um den Tatsachen Genüge zu tun, die Handlung. Die Wahrheit aber ist das nicht. Jetzt kann man es ja ruhig sagen, und wahrhaftig, Kostja hat es geschrieben in diesem Brief an Christa T., den ich gelesen habe: Manchmal, schrieb er, spricht alles gegen einen, und man kann sich nicht verteidigen, und doch ist man nicht schuldig. Jedenfalls nicht so, wie alle denken. – Damit hat er nicht Günter gemeint, sondern sich selbst. Jetzt, nach zehn Jahren, hat Christa T. ihm zweifellos recht gegeben: Als über Günter verhandelt wurde, war Kostja schon nicht mehr schuldig. Denn in jener Stunde, da Günter sich um Kopf und Kragen redete um seiner Liebe willen, hat Kostja angefangen, die blonde Inge wirklich zu lieben, und so hat er die Lippen nicht mehr aufgekriegt zu dem Eingeständnis: Ja, ich hab sie ihm weggenommen, bloß aus Spaß, und er hat darüber den Kopf verloren. Sondern hier sollte kein Spaß,kein Versehen, hier sollte Schicksal im Spiel sein, und Günter hat dagegen nicht aufgemuckt, daß Kostja schwieg. Da stand der denn wie ein Feigling, und wir alle haben nichts anderes gedacht. Ich würde es heute noch denken, wenn ich nicht seinen Brief gelesen hätte und den Satz darin: Inge, meine Frau, ist jahrelang krank gewesen. Mir ist deshalb nicht alles so gegangen, wie es sollte. – Doch aus dem Ton des Briefes spricht, daß ihm nichts leid tut.
    Wieviel Christa T. in jener Prüfungsstunde gesehen hat – ich weiß es nicht. Ich weiß, wie sie sich an jenem Tag von Kostja verabschiedet hat, unter einer Linde, die vor der Schule stand. Er kehrte wieder den kalten Spötter heraus: Wir wollen Abschied nehmen unter diesem Baum, die Liebe war ein schöner Traum ... Schreib das auf, sagte er noch, schreib alles auf – das willst du doch? Sie gingen nach verschiedenen Seiten auseinander, auch die Abschiedsmusik fehlte nicht. Aus einem Fenster kam ein Lied: Jetzt kommt der Sommer in das Land, fahr hin mit deinem falschen Sinn ...
    Du hast es nicht gewollt.
    Das Lied, das so widerwärtig paßte, schloß freilich mit einer neuen Liebe.
    Sie sind so blaß, sagt die Dame Schmidt, als sie am Abend nach der Versammlung nach Hause kommt, krank werden Sie mir doch nicht werden? Die Dame Schmidt sieht empfindsame Filme sehr gerne, aber seelische Schmerzen in der Wirklichkeit sind ihr ein Greuel. Was also, wenn die eigene

Weitere Kostenlose Bücher