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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Untermieterin in ihrem Zimmer hockt und nicht ißt und nicht trinkt?
    Vorerst aber, am selben Abend noch, hat Christa T. einen Brief an ihre Schwester geschrieben.

8
    Wann – wenn nicht jetzt?
    So beginnt der Brief, den ich gerne unterschlagen hätte, denn er wurde nicht abgeschickt, und außer ihr und mir kennt ihn niemand. Also nur noch ich. Am nächsten Morgen schon begann das, was die Dame Schmidt respektvoll ihre »Krankheit« nannte, das Herumsitzen und Sich-nicht-Rühren, zwei Tage lang, knapp, daß man ein Stück Brot in sich hineinbrachte, bis der junge Mann kam, nein, nicht der schöne junge Herr mit dem vornehmen Wesen, der andere, sommersprossige, sie hat ihm nur schnell im Flur ein paar Worte zuflüstern können, er war sehr höflich, auch zu einer einfachen Frau, und dann ging er schon ins Zimmer, lange hat man nur ihn sprechen hören. Bis das Fräulein zu weinen anfing, da konnte man aufatmen, nicht wahr? Am nächsten Tag hat er sie dann ja auch zur Bahn gebracht.
    Der Brief blieb in ihrem Tagebuch liegen bis heute.
    Ich habe nämlich gar nicht gemerkt, als sie ziemlich lange vor den Semesterferien auf einmal verschwand und nichts von sich hören ließ. In dem Brief steht aber, daß sie sterben wollte und sonst zu nichts Lust hatte. Wie konnte einer, den man fast jeden Tag sah, unversehens auf Sterben verfallen?
    Ich muß diesen Brief leider mitteilen, weil man niemals für möglich hält, daß diese Briefe geschrieben werden. Ich erfinde ihn nicht, aber ich erlaube mir, ihn zu kürzen, zusammenzurücken, was bei ihr verstreut ist.
    Liebe Schwester, schrieb Christa T., im Frühsommer dreiundfünfzig. Wann – wenn nicht jetzt?
    Du weißt, wie das ist: Die Zeit geht schnell, aber an uns vorbei. Diese Atemlosigkeit oder diese Unfähigkeit, tief einzuatmen. Als ob ganze Teile der Lunge seit Ewigkeit nicht mehr mittun. Kann man aber leben, wenn ganze Teile nicht mittun?
    Welch eine Vermessenheit: Man könnte sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen. Glaub mir, man bleibt, was man war: lebensuntüchtig. Intelligent, nun ja. Zu empfindsam, unfruchtbar grübelnd, ein skrupelvoller Kleinbürger ...
    Gewiß, Du erinnerst Dich unserer Losung, wenn einer von uns mal den Kopf hängenließ: Wann – wenn nicht jetzt? Wann soll man leben, wenn nicht in der Zeit, die einem gegeben ist? Damit brachten wir uns immer wieder hoch. Jetzt ach, könnte ich es Dir schildern ... Mir steht alles fremd wie eine Mauer entgegen. Ich taste die Steine ab, keine Lücke. Was soll ich es mir länger verbergen: Keine Lücke für mich. An mir liegt es. Ich bin es, der die notwendige Konsequenz fehlt. Wie ist mir doch alles, als ich es zuerst in den Büchern las, so sehr leicht und natürlich vorgekommen.
    Ich weiß nicht, wozu ich da bin. Kannst Du verstehen, was das heißt? Ich erkenne alles, was falsch an mir ist, aber es bleibt doch mein Ich, ich reiß es doch nicht aus mir heraus! Und doch. Einen Weg kenn ich, den ganzen Jammer auf einmal und von Grund auf loszuwerden ... Ich kann meine Gedanken nicht mehr davon losmachen.
    Eine Kälte in allen Sachen. Die kommt von weit her, durchdringt alles. Man muß ihr entweichen, ehe sie an den Kern kommt. Dann fühlt man sie nicht mehr. Verstehst Du, was ich meine?
    Menschen, ja. Ich bin kein Einsiedler, Du kennst mich. Aber kein Zwang darf dabeisein, es muß mich zu ihnen drängen. Dann wieder muß ich allein sein können, sonst leide ich. Ich will arbeiten, Du weißt es – mit anderen, für andere. Aber meine Wirkungsmöglichkeiten sind, soviel ich sehe, schriftlicher, mittelbarer Natur. Ich muß mich mit den Dingen in Stille, betrachtend, auseinandersetzen können ... Das alles ändert nichts, unlösbarer Widerspruch, an meiner tiefen Übereinstimmung mit dieser Zeit.
    Doch schon der nächste Schlag – wie wenig, wüßtest Du es, genügt, für mich ein Schlag zu sein! – kann mich endgültig an den Strand werfen. Aus eigener Kraft finde ich dann nicht mehr zurück. Ein Leben mit anderen Gestrandeten würde ich nicht führen, das ist das einzige, was ich sicher weiß. Ehrenvoller, ehrlicher ist immer noch der andere Weg. Auch stärker.
    Bloß den anderen nicht zur Last fallen, die weitergehen werden, die recht haben, weil sie stärker sind, die sich nicht umblicken können, denn sie haben keine Zeit.
    Hätte ich ein Kind, schrieb sie noch.
    Da bricht der Brief ab.
    Und jetzt wird man mich ja nicht mehr fragen, warum ich ihn zurückhalten wollte.
    Ich frag mich selber.
    Nur, weil man

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