Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
watete schnell durch das flache, von Entengrütze dickgrüne Wasser bis zu der tieferen Rinne, wo man schwimmen kann. Sie rief mir zu, daß ich mich hinter ihr halten sollte, um nicht in die Algen und Schlingpflanzen zu geraten. Sie wollte mich in ihren See einführen. Wir schwammen ein Stück nebeneinander her, ich ließ sie das Tempo bestimmen und stellte mich nach kurzer Zeit erschöpft. Sie glaubte mir nicht, ich mußte aufpassen, daß man sie nicht merken ließ, daß man sie schonen wollte.
    Justus gab mir einen Wink, ihr ins Gewissen zu reden. Sie habe am Vortag stundenlang im Garten Unkraut gehackt, sie arbeite wie verrückt und nehme einfach keine Notiz von ihrem – Zustand. Ein doppeldeutiges Wort, wir merkten es beide, aber er fügte nichts hinzu. Ich nahm die Gelegenheit nicht wahr, ihn nach den Aussichten zu fragen, die die Ärzte ihr gaben. Wir hielten uns an die unausgesprochene Übereinkunft, hinter ihrem Rücken nicht über sie zu sprechen. Wir waren in der Lage von Leuten, die fürchten müssen, daß der Hauch eines Wortes den Boden zum Einsturz bringt, auf dem sie stehen.
    Nach dem Essen brachten wir sie dazu, sich hinzulegen, und wir fuhren mit Justus zu dem alten, halbverfallenen Gasthof, wo man ihm die Aale aus der Fischereigenossenschaft räucherte. Er bekam ein großes, in Zeitungspapier gewickeltes Paket. Er machte uns mit den Tieren des Hofes bekannt, einem alten, halbblinden Hund und einer verwilderten mißtrauischen Katze, der er ein Mittel gegen die Räude mitgebracht hatte. Wir redeten auf der Rückfahrt davon, was aus diesem Lokal zu machen wäre, wenn es in die richtigen Hände käme, ein beliebtes Ausflugsziel, eine Goldgrube, sagte Justus. Aber mir soll’s ja recht sein, wenn sie nicht den ganzen Pulk von Autos und Motorbooten hierherziehen ... Ich erinnere mich nur an diesen Gasthof und an die Tiere und an unser Gespräch, weil ich nicht vergaß, daß wir alle wußten, wir müßten eigentlich über etwas anderes sprechen, aber das war nicht möglich.
    Erst am Abend ...
    Aber dieser Abend gehört noch nicht hierher. Hierher gehört noch jener Silvesterabend und vorher die Rückfahrtvon unserer Hausbesichtigung, die Rückfahrt, bei der der Schneesturm losging. Justus mußte in einem der Dörfer anhalten, um einen kleinen Schaden an seinem Auto zu reparieren. Man kannte ihn in der Werkstatt und gab sich Mühe, ihm schnell zu helfen. Wir stiegen aus und warteten in einer windgeschützten Ecke. Christa T. erzählte mir Geschichten von ihren Kindern, und mir fiel auf, daß sie sich, anders als andere Mütter, nicht nur die schmeichelhaften Episoden merken konnte und daß sie nicht nur die erfreulichen Eigenschaften sah, sie war unbestechlich. Vor wenigen Tagen war Anna, ihre kleine Schwester an der Hand, fasziniert einem Trauerzug gefolgt und in letzter Minute mit Mühe daran gehindert worden, bis ans Grab mitzugehen.
    Sie war außer sich, sagte Christa T., ich erklärte ihr, daß nur nahe Verwandte dabeisein dürfen, wenn ein Mensch beerdigt wird. Da sagte sie zu mir: Sterb bloß bald. Ich will sehen, wie du eingegraben wirst.
    Aber dann siehst du mich nie wieder!
    Das weiß ich doch, sagte sie gleichmütig.
    Sie ist so sachlich, sagte Christa T., ohne eine Spur von Zimperlichkeit. – Ich kenne keine Mutter, die weniger versucht hätte, ihre Kinder nach ihrem Bild umzumodeln. Als sie gestorben war und man den Tod der Mutter vor Anna verheimlichte, mußte ich manchmal an unser Gespräch in der Autowerkstatt denken, und wenn ich nicht eine wörtliche Aufzeichnung des Dialogs mit Anna unter den Papieren von Christa T. gefunden hätte – ich hätte gezögert, ihn hierherzusetzen, weil wir gewohnt sind, in die dümmsten, zufälligsten Geschehnisse eine düstere Vorbedeutung zu legen, wenn nur das Ende düster ist.
    Jener Silvesterabend war ohne üble Vorahnungen.
    Wir erinnern uns alle an ihn, sogar Blasing, der nicht leicht etwas behält, was nicht eine Geschichte für ihn abgibt, die sich verkaufen läßt. Auch er erinnert sich, das weiß ich, weil er es mir gesagt hat, als ich ihn neulich in der Stadt traf. Er preßte wie immer seine schwarze Mappe an sich, in der ein Manuskript steckt oder das Versprechen auf ein Manuskript, und er war »auf Achse«, wie er es nannte, das heißt, er bot seine Ware an. Er hatte einen neuen Mantel, es ging ihm gut, er leistete sich Wehmut. Ja, sagte er von unserer Silvesterfeier, das war einer der letzten glücklichen Abende, dann ging der Ernst des

Weitere Kostenlose Bücher