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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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immer noch einredete, was sie aus diesem halbverpfuschten Leben denn noch machen wollte. Sie hatte alles vergessen, nichts Tröstliches oder Ermutigendes fiel ihr ein. Justus konnte sie nicht fragen, er war für sie nicht da in jenen Wochen, er kämpfte selbst dagegen an, zu scheitern. Auf einem Volksgut waren Unterschleife vorgekommen, man wies Nachlässigkeiten in der Viehpflege nach, der gerissene Direktor suchte den unerfahrenen Tierarzt hineinzuziehen, er mußte als Zeuge in einer Gerichtsverhandlung auftreten, er spürte Mißtrauen, glaubte, jedermann hielte ihn jetzt für einen liederlichen oder unfähigen Menschen. Er verschloß die Kränkung in sich, er trank abends allein in einer Kneipe, stieg dann trotzdem ins Auto und fuhr langsam und vorsichtig durch die Stadt, wurde angehalten, kontrolliert und bekam ein Strafmandat.
    Eine böse Zeit, sagte er zu mir, ich kriegte es nicht fertig, mit ihr über meine Angelegenheiten zu sprechen, ich wollte nicht, daß sie mich so sah, wie ich mich selber sah. Ich wunderte mich bloß, daß sie manchmal das Auto nahm und stundenlang wie eine Wilde über Land fuhr, und wenn sie wiederkam, war sie zu Tode erschöpft.
    Christa T. ging in ihrer Wohnung herum wie in einem Käfig. Sie wußte, daß sie nichts denken konnte, was nicht schon millionenmal gedacht, kein Gefühl aufbringen, das nicht in seinem Kern durch Abnutzung verdorben war, und daß jeder ihrer Handgriffe von jeder anderen an ihrer Stelle gemacht werden konnte. Alle ihreVersuche, den toten Kreis zu verlassen, der sich um sie gebildet hatte, kamen in schrecklichem Gleichmut nur immer wieder zu ihr zurück. Sie spürte, wie ihr unaufhaltsam das Geheimnis verlorenging, das sie lebensfähig machte: das Bewußtsein dessen, wer sie in Wirklichkeit war. Sie sah sich in eine unendliche Menge von tödlich banalen Handlungen und Phrasen aufgelöst.
    Nun war jedes Mittel recht, etwas Neues über sich zu erfahren. Sie mußte erleben, daß noch Sinn in ihren Sinnen war, daß sie nicht umsonst immer noch sah und hörte und schmeckte und roch. So traf sie auf diesen jungen Mann, der sah zu ihr auf wie zu einer Erscheinung, der zog sie an sich, der legte ihr die Hand auf die Schulter. Da fühlte sie das Leben zurückkehren, und sei es als Schmerz, und wenn sie nur eine Teetasse über den Tisch reichte, war sie plötzlich wieder sie selbst.
    Wenn sie am Leben geblieben wäre, hätte dies nicht der letzte Beweis dessen bleiben können, daß sie sich mit den Gegebenheiten nicht abfand. Damals fürchtete ich den Preis, den ich bei mir selbst vielleicht »Unglück« nannte, ohne in Betracht zu ziehen, daß Unglück ein angemessener Preis sein kann für die Verweigerung der Zustimmung. Da kamen wir uns ja noch wie Figuren in einem gut gebauten Stück vor, dessen Ende unfehlbar die Auflösung aller Verwicklungen und aller Konflikte war, so daß jeder einzelne unserer Schritte, ob wir ihn von uns aus taten oder zu ihm gedrängt wurden, schließlich vom Ende her seine Rechtfertigung finden mußte. Christa T. muß damals aus der Hand dieses überaus freundlichen, aber recht banalen Stückeschreibers gefallen sein. Sie muß ein ungutes oder auch gar keinordentliches Ende auf einmal in Erwägung gezogen haben, etwas muß sie gereizt haben, gerade solche Schritte auszuprobieren, die nirgendshin führten.
    So mußte es diese verbotene Liebe sein, oder wie man es nennen soll. Wolln doch mal sehen, wie der Tisch umstürzen kann, wolln doch mal die Gesichter sehen, die nur bei dieser Art von Ereignissen zum Vorschein kommen. Wolln doch mal mein Gesicht sehen, wenn noch einmal alles in Frage steht.
    Die Umstände und Anlässe konnte sie sich nicht aussuchen, die sie in den Stand setzten, mit den wenigen Dingen, die man wirklich in der Hand hat, noch einmal zu spielen, den Einsatz noch einmal zu erhöhen.
    Dann freilich verlieren die Berechnungen ihre Kraft, und Hören und Sehen vergeht einem.

18
    Als ich sie wiedersah, war von »dieser Sache« kaum noch die Rede, und es war keine Bitterkeit in ihr übriggeblieben und auch nichts von diesem gefährlichen gegenstandslosen Verlangen. Sie stand am Herd und hantierte mit den Töpfen, auf einmal sagte sie, daß sie wieder ein Kind erwartete, mit einem kleinen triumphierenden Unterton in der Stimme, den ich wohl nicht mißdeutet habe. So löst ihr eure Probleme, sagte ich, und wir lachten.
    Damals war es, bei unserem letzten Besuch in ihrer alten Wohnung, Silvester zweiundsechzig, als sie mir die

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