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Solche Flaschen sind den Gästen vorbehalten.«
»Nun komm schon, das ist mein Weihnachtsgeschenk«, drängte sein Freund.
Nach kurzem, rein formalem Widerstand erklärte sich Jonathan bereit, den Grand Cru zu öffnen. Letztlich war es besser, wenn Marcus ein paar Gläser im Restaurant trank. So hatte er ihn wenigstens unter Kontrolle. Ansonsten könnte der Kanadier womöglich beschließen, durch die Bars zu ziehen, und wenn er dann betrunken war, zog eine Katastrophe die andere nach sich. Mehr als ein Mal hatten seine Saufkumpanen seine Freundlichkeit und Gutgläubigkeit ausgenutzt, um ihn beim Poker auszunehmen und ihn unglaubliche Schuldanerkenntnisse über horrende Summen unterschreiben zu lassen, die Jonathan anschließend nur mit Mühe hatte annullieren können.
»Schau her, was für eine Farbe dieser edle Tropfen hat!«, begeisterte sich Marcus, als er den Wein zum Dekantieren in eine Karaffe goss.
Als unehelicher Sohn aus einer Liaison von Francescas Vater mit einer Quebecer Country-Sängerin hatte er beim Tod seines Erzeugers – ein steinreicher New Yorker Geschäftsmann – keinen Cent geerbt. Seine Mutter war vor Kurzem gestorben, und er unterhielt nur eine sporadische Beziehung zu seiner Halbschwester. Der junge Mann führte ein sorgloses Leben in einer Traumwelt und ignorierte sein Äußeres ebenso wie die gesellschaftlichen Regeln und Anstandsgebote. Er schlief zwölf Stunden am Tag und half bisweilen im Restaurant aus, doch die Zwänge eines geregelten Arbeitslebens schienen ihm fremd zu sein. Seine einfache, verrückte Art und seine Anhänglichkeit hatten etwas Rührendes und Entwaffnendes, auch wenn die Folgen seiner Lebensweise im Alltag oft schwer zu ertragen waren.
Während seiner Ehe hatte Jonathan in Marcus nur einen Idioten gesehen, mit dem er nichts gemein hatte. Doch als Francesca ihn verlassen hatte, war sein Schwager der Einzige gewesen, der sich um ihn gekümmert hatte. Auch Charlys Existenz hatte damals nicht verhindern können, dass Jonathan in das schwarze Loch der Depression abglitt. Ohne Arbeit und tief verzweifelt, hatte er sich ganz seinem Kummer hingegeben und einen etwas zu engen Kontakt mit den Herren Jack Daniels und Johnny Walker gepflegt.
Glücklicherweise hatte Marcus wie durch ein Wunder seine Trägheit überwunden und zum ersten Mal im Leben die Dinge in die Hand genommen. Er hatte ein schlecht gehendes, italienisches Restaurant entdeckt und alles darangesetzt, die Käufer zu überreden, es in ein französisches Bistro umzubauen und seinem Schwager die Küche anzuvertrauen. Durch diese Initiative hatte Jonathan wieder Fuß gefasst. Sobald er spürte, dass sein Freund gerettet war, hatte sich Marcus erneut dem Müßiggang hingegeben.
»Auf dein Spezielles!«, rief er und reichte Jonathan sein Glas.
»Wir feiern also Weihnachten vor!«, meinte der Franzose und schaltete das Art-déco-Radio ein, das er auf einem Flohmarkt in Pasadena gefunden hatte. Er suchte einen Rocksender, der die Lifeversion von Light My Fire spielte.
»Ah! Das ist gut …« Marcus seufzte – ohne dass ersichtlich war, ob er den Wein oder die Musik der Doors meinte – und lehnte sich auf seiner Bank zurück.
Jonathan versuchte ebenfalls, sich zu entspannen. Er knöpfte seinen Hemdkragen auf und zog das Jackett aus. Doch der Anblick von Madelines Telefon auf dem Tisch irritierte ihn. Durch diese Sache mit dem Handy gehen mir x Reservierungen verloren! Einige seiner Stammkunden hatten seine Privatnummer: ein Privileg, das ihnen die Möglichkeit gab, sich auch bei großem Andrang einen Tisch zu sichern.
Während Marcus nach dem Smartphone griff, betrachtete Jonathan seinen Sohn, der auf der Bank eingeschlafen war. Er hätte gerne zehn Tage Urlaub genommen, um sich Charly widmen zu können, doch das konnte er sich nicht leisten. Eben erst hatte er sich aus dem finanziellen Abgrund befreit, der ihn einige Jahre zuvor zu verschlingen drohte. Der Vorteil war, dass er nach diesem Desaster ein für alle Mal gegen Kredite, überzogene Konten, unbezahlte Rechnungen und Ähnliches gefeit war.
Erschöpft schloss er die Augen und sah Francesca vor sich, wie sie ihm am Flughafen begegnet war. Auch nach zwei Jahren war der Schmerz noch immer intensiv. Fast unerträglich. Er öffnete die Augen wieder und nahm einen Schluck Wein, um das Bild zu vertreiben. Er lebte zwar nicht so, wie er es sich erhofft hatte, aber immerhin war es sein Leben.
»He, gar nicht übel, die Kleine!«, rief Marcus, während seine
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