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Nachrichten aus einem unbekannten Universum

Nachrichten aus einem unbekannten Universum

Titel: Nachrichten aus einem unbekannten Universum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Tiefe. Zerbrechlich wirkende, schlanke Kelche aus Silikat, einer Siliziumverbindung. Obgleich starr, erwecken sie den Anschein, sich zu einer unhörbaren Melodie zu wiegen. Im venezianischen Murano, der Insel der Glasbläser, würde es einen Meister erfordern, etwas so Kunstvolles wie ein Venuskörbchen nachzubilden: ineinander verschmolzene Rippenstrukturen, hauchzarte, netzartig gewobene Wände von reinstem Weiß. Kaum traut man sich, das federleichte Gebilde in die Hand zu nehmen, aus Angst, es könne herunterfallen und zerbrechen. Doch da irrt der Schöngeist. Venuskörbchen sind überaus stabil. Schließlich entstammen sie einer der lebensfeindlichsten Zonen der Erde, den Abyssalen und der Region darunter, dem Hadal.
    Das Hadal — abgeleitet vom griechischen Totenreich, dem Hades — ist der Arsch der Welt, bezogen auf den Inner Space. Kein Bewohner der oberen Schichten könnte hier überleben. Zum Hadal rechnet man Regionen unterhalb von 6.000 Metern Tiefe. Oft wird in Verbindung mit Abyssal und Hadal vom Benthal gesprochen, als handele es sich dabei um eine noch tiefere Gegend. Vorsicht, hier kommt es zur Begriffsverwirrung: Benthal steht für die Gesamtheit aller marinen Böden. Es bezeichnet ebenso den sonnenbeschienenen Grund eines Binnengewässers oder einer ozeanischen Küstenregion wie den lichtlosen Abgrund. Die Durchschnittstiefe unserer Ozeane beträgt 3,79 Kilometer, was Flachmeere ebenso einschließt wie den tiefsten bekannten Punkt der Erde, den Mariannengraben südöstlich von Japan, Benthal ist also ein weiter Begriff.
    In diesem Zusammenhang: Der Schweizer Tiefseeforscher Jacques Piccard und sein Kompagnon, der amerikanische Marineleutnant Don Walsh, gingen dem Mariannengraben am 23. Januar 1960 mit ihrem selbst entwickelten Tiefseetauchgerät Trieste auf den Grund und vermeldeten etwas ratlos, 11.340 Meter erreicht zu haben. Nach Piccards Kenntnisstand war der Graben aber nur 10.924 Meter tief. Später musste er eingestehen, sich geirrt zu haben — man hatte das Messgerät in der Schweiz kalibriert, in Süßwasser, das eine andere Dichte hat als Salzwasser, wodurch sich die Abweichung erklärte.
    Aktuell liest man, Piccard und Walsh seien 10.916 Meter tief gekommen, was ebenso verkehrt ist. De facto erreichten sie 10.740 Meter. So oder so eine enorme Leistung, bedenkt man, dass der höchste Punkt der Erde der Mount Everest mit 8.848 Meter ist. 1995 schickten die Japaner ihren Tiefseeroboter Kaiko hinterher, was Piccards Entdeckungen wenig Erhellendes hinzufügte — der Schweizer, der im Schlick des Grabens einen Plattfisch erspähte, hat wahrscheinlich mehr gesehen. In Kürze soll nun das neu entwickelte Hybrid Remotely Operated Vehicle (HROV) des amerikanischen Woods Hole Oceanographic Institute erneut die ultimative Tiefe ansteuern, um Piccards Fisch die Flosse zu schütteln. Von dem immerhin weiß man, dass er dort unten vorkommt, was auf komplexe Lebensgemeinschaften schließen lässt. Ansonsten sind unsere Kenntnisse über das Tiefgeschoss der Schöpfung mehr als dürftig.
    Gemessen am Mariannengraben lebt das Venuskörbchen in lichten Höhen. Dennoch können es Menschen nur in Händen halten, weil es sich in Schleppnetzen verfängt oder im Zuge wissenschaftlicher Arbeit an die frische Luft gelangt. Beliebt ist es zum einen seiner Untermieter wegen, beziehungsweise der mit ihnen verbundenen Symbolik. Ihr verdanken sich weitere Spitznamen des zarten Silikatschwamms: »Hochzeitszimmer« und »Gefängnis der Ehe«. Beide Begriffe sind dem Umstand geschuldet, dass zwei verliebte Garnelenlarven unmittelbar nach der Hochzeitsreise ins Innere des Schwamms ziehen, wo sie vor lauter Schmusen die Zeit vergessen und wachsen. Als Folge gelangen sie nicht mehr nach draußen. Nur ihre Kinderchen sind klein genug, die elterliche Wohnung zu verlassen. Mama und Papa bleiben zurück und können einander noch eine Weile auf den Keks gehen — oder sich verliebt in die Stielaugen gucken. Soll’s ja auch geben im hohen Alter.
    Traditionell verschenken Japaner das Venuskörbchen an Brautpaare. Peter Fratzl vom Potsdamer Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung interessiert an dem 25 Zentimeter großen Schwamm etwas völlig anderes. Zusammen mit Wissenschaftlern der Bell Laboratories in Santa Barbara untersucht er das Silikat-Skelett auf seine verblüffende Festigkeit. Tatsächlich ist es gar nicht so leicht, ein Venuskörbchen zu beschädigen. Die siebenfach geschichtete biologische

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