Nachrichten aus einem unbekannten Universum
Glasfaser ist so kunstvoll ineinander verwoben, dass Venuskörbchen schon mal keine Glasbruch-Versicherung abschließen müssen. Fratzl beschreibt die Fasern als Mikrolaminat, miteinander verklebte Glaslamellen von wenigen Mikrometern Durchmesser. Damit trotzt der grazile Schwamm Krabbenscheren und den hornigen Kiefern von Würmern und Oktopoden ebenso wie dem ungeheuren Druck, der auf ihm lastet, und den teils rabiaten Strömungen. Für Fratzl und sein Team birgt das Venuskörbchen damit Geheimnisse moderner Ingenieurskunst — sofern man etwas nach 400 Millionen Jahre Entwicklungsgeschichte als modern bezeichnen will.
Die Neugier auf natürliche Bauprinzipien fördert allgemein das Interesse am Hadal und dem darüber liegenden Abyssal. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass abyssus im Griechischen wie im Lateinischen das Grund- und Bodenlose meint, das Benthal, die Bodenregion, allerdings jeden Ozean nach unten abschließt. Der Grund findet sich im Weltbild früherer Kulturen, für die das offene Meer keinen Boden besaß. Doch gerade der Tiefseeboden hat es in und auf sich. Nur Pflanzen gibt es dort keine. Die gedeihen ausschließlich im Sonnenlicht.
Hier nochmal die Zonen in der Zusammenfassung, bevor wir anfangen, im Tiefseeschlamm zu wühlen:
Benthal: Gesamtheit aller Bodenregionen, von der flachen Küste über die Terrassen der Kontinentalhänge abwärts bis zum tiefsten Punkt der Ozeane.
Litoral: Bodenregion der sonnendurchfluteten Küstenzonen bis in 200 Meter Tiefe, wo Photosynthese eben noch möglich ist.
Bathyal: Bereich zwischen 200 und 2.000 Metern (in manchen Publikationen 2.500 Meter), zu dem auch die Restlichtzone gehört, die bis in Tiefen von 1.000 Metern reicht.
Abyssal: 2.000 bis 6.000 Meter unter dem Meeresspiegel. Für einige Wissenschaftler beginnt das Abyssal bereits in 1.000 Meter Tiefe, in jedem Fall umfasst es die Dunkelzone.
Hadal: Unterhalb 6.000 Meter
Und auch diese Zahlen sind nur eine Annäherung. Sie unterliegen ebenso großer Ungenauigkeit wie die Markierungen auf der geologischen Zeitskala. Es scheint ein Problem zu sein, sich auf allgemeingültige Daten zu verständigen. Die Angaben, bis zu welcher Tiefe Sonnenlicht zur Orientierung dient, schwanken beispielsweise zwischen 300 und 700 Meter. Auf der nächsten Party von Meeres- kundlern sagen Sie also einfach 500 Meter. Die einen werden protestieren, die anderen beipflichten. Mindestens einen, der Ihnen Recht gibt, finden Sie immer.
Wir gehen ganz tief runter, in die Schlammwüsten der Tiefseegräben und -ebenen. Sie bestehen aus lockerem Sediment und organischem Abfall. Die entzückende Mischung wird unter dem enormen Wasserdruck und ihrem eigenen Gewicht zusammengepresst, sodass sie sich zum Inneren hin verfestigt, während es von oben ständig nachrieselt — Sand, Kot, Gewebefetzen, alle Arten des organischen Schnees. Landschaftliche Reize sucht man hier vergebens. Kaum ein Platz auf der Erde kann es an Tristheit mit den Abyssalen und Hadalen aufnehmen, dennoch gehören sie zu den bevorzugten Wohngegenden der Lower Class. Tiefseeböden beheimaten eine Artenvielfalt, wie man sie sonst allenfalls im brasilianischen Dschungel findet.
Denn es ist keineswegs das Schlechteste, am Boden zu leben. Man muss nicht ständig dem Absinken entgegenwirken, sondern kann gemütlich umherkriechen oder einfach im Boden wurzeln, über das Nadal philosophieren und an pubertierende Garnelen untervermieten. So entdeckt man bei genauem Hinsehen eine illustre Gesellschaft: Schlangensterne, die mit hochgereckten Armen Nahrungspartikel zu erhaschen suchen, Wandergemeinschaften von Seeigeln, bis zu 30 Zentimeter große Riesenmuscheln, Schlot-, Stachel- und Wellhornschnecken, Flohkrebse, allerlei Bart-, Platt-, Schuppen- und Borstenwürmer sowie unvorstellbare Ansammlungen von Foraminiferen, einzelligen Amöben in Kalkgehäusen, die zarte Tentakelchen recken und auch kleine Krebse nicht verschmähen — die größten bekannten Foraminiferen werden 12 bis 15 Zentimeter groß. Das Gros der Amöben im Schlick misst indes nur ein paar Millimeter oder hundert Mikrometer. Nicht weniger häufig anzutreffen sind haardünne Nematoden, Fadenwürmer, die ihre Beute wie Vampire auslutschen. Der Schlick ist gesättigt von all diesen Wesen, jedes Sedimentkorn birgt einen oder mehrere Bewohner.
Da freuen sich die Gurken.
Seegurken gibt es nicht im Glas zu kaufen, und sauer sind sie allenfalls, wenn das Essen ausgeht, weshalb sie unablässig Schlick
Weitere Kostenlose Bücher