Nachrichten aus einem unbekannten Universum
zu treffen. Dieses Übermorgen berührt uns unmittelbar: Omas Geburtstag, das Endspiel, die Fahrprüfung. Im Kollektiven hingegen mangelt es an Körperwärme. Da müssen wir kalten Zahlen und Statistiken vertrauen, da sind es Grafiken, Kurven und Tabellen, die unser Handeln fordern.
Nur, so nah wie Oma sind wir noch keinem Kabeljau gekommen, zumindest nicht in seinem natürlichen Lebensraum. Wer denkt bei dem duftenden weißen Filet auf seinem Teller an silbrig glitzernde Schwärme und Schleppnetze von der Größe mehrerer Flugzeughangars? Wer kann sich von Millionen (toten) Fischen wirklich ein Bild machen? Eine Fußballmannschaft, gut, das ist ein ansehnlicher Haufen Kerls. Plastisch auch die Vorstellung, wie der Fahrlehrer die Hände vors Gesicht schlägt. In der Verbildlichung des Unmittelbaren, höchst Persönlichen sind wir Weltmeister. Hingegen mangelt es uns an Kollektivsinn, Abstraktionsvermögen und Voraussicht. Übrigens eine Schwäche, für die wir wenig können. Wie sollen wir übergreifend denken und handeln, da Miss Evolution es versäumt hat, uns mit der Gabe kollektiver Wahrnehmung auszustatten? Dass Oma letzte Woche gar nicht gut aussah und Ringe unter den Augen hatte, weckt naturgemäß mehr Betroffenheit als eine Fischart, die gerade ausstirbt. Nicht, dass wir ohne Mitleid wären. Nur, wie sieht ein leeres Meer aus? Wir wissen ja nicht mal, wie ein volles aussieht. Und überhaupt, wenn wirklich alles leer gefischt ist, wo kommen dann all die Fische in der Theke her?
Ja, ruft Klein-Fritz, und die Fischstäbchen?
Sie kommen aus Aquakulturen, riesigen Aufzuchtbetrieben für Speisefische und Krustentiere. Der meiste Fisch, den wir heute kaufen, stammt aus Farmen. Grundsätzlich eine gute Sache. Zuchtlachs schmeckt vielleicht nicht ganz so gut wie wilder, aber es ist immerhin Lachs. Mit Aquakultur müsste man der Überfischung doch eigentlich Herr werden. Oder?
Klein-Erna ist skeptisch. Sie hat zu Hause ein Aquarium. Darin lebt ein kleiner Goldfisch. Und der, sagt Klein-Erna, muss gefüttert werden. Was also fressen Zuchtfische? Richtig, Fisch. Und was fressen immer mehr Zuchtfische? Immer mehr Fisch natürlich. Und wo kommt der her, der Fisch, den die Zuchtfische essen?
Überfischung ist ein weites Feld.
Obwohl Aquakultur der Massenhaltung von Hühnern und Schweinen mancherorts in nichts nachsteht, wird sie das Dilemma nicht lösen. In Maßen betrieben, ist sie ein Segen, hilft, Arten zu erhalten und Menschen zu ernähren. Im Übermaß richtet sie mehr Schaden an, als sie abwendet.
Übermorgen ist das Schreckgespenst, das jüngste Gericht. Übermorgen wird bestraft, wer ernsthaft glaubt, durch Umgehen von Fangquoten und Abfischen von Jungtieren seine Existenzgrundlage zu sichern. Es ist der Existenzsicherung aber nicht dienlich, auch noch den letzten angsterstarrten Knirps aus dem Meer zu ziehen. Die Überfischung leistet der Existenzvernichtung Vorschub. Profitdenken der Konzerne, Angst um den Job, es gibt Gründe genug, jede Vernunft in den Wind zu schlagen. Wir erleben das Um- sich-schlagen des Ertrinkenden, der andere unter Wasser drückt im Bemühen, sich zu retten.
2003 und 2004 war Spanien das EU-Land mit der höchsten Überfischungsrate. Auch Irland räumte munter die Meere leer. Zwar bestimmt der Fischereirat der Europäischen Union, wie viel Fisch den Mitgliedsstaaten zusteht, doch nimmt man es mit den Kontrollen nicht so genau. Viele Länder bleiben die Berichte an die Kommission schuldig. Drei Jahre in Folge haben Großbritannien, Dänemark und Schweden jedes Zeugnis über die Einhaltung ihrer Verpflichtungen verweigert. Dass sich der Europäische Gerichtshof 2005 veranlasst sah, gegen Engländer, Belgier, Iren, Dänen, Spanier, Portugiesen, Finnen und Schweden drakonische Strafen zu verhängen, wird die Betroffenen wohl eher verärgert als zur Einsicht gebracht haben. Was in Europa geschieht, findet seine Entsprechung in Amerika oder Asien. Die Bilder gleichen sich, die Bockigkeit ist überall dieselbe. Wohin es führen kann, wenn man sich laut singend die Ohren zuhält, zeigen die Grand Banks vor Neufundland. Einst das Welt-Kabeljau-Eldorado schlechthin, brach die Fischerei dort Mitte der neunziger Jahre völlig zusammen. Umweltschützer bemühen sich nun, die ehemaligen Jagdgründe in ein ausgedehntes Naturschutzgebiet umzuwandeln. Bleibt zu hoffen, dass sie einen langen Atem haben.
Der Ast, an dem die Fischerei sägt, trägt nicht nur Fischer, sondern über sechs Milliarden
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