Nachrichten aus einem unbekannten Universum
haben kosmische Geschosse Unordnung und frühes Leid über das Leben gebracht. Alles ist denkbar, und vielleicht hat sogar alles zusammen zur großen Vereisung beigetragen. Wie auch immer, fest steht, dass Miss Evolutions Kinder äußerst knapp davongekommen sind. Fast wäre es das gewesen mit den Eukaryonten und der Photosynthese, und Sie und ich würden immer noch an vulkanischen Schloten wohnen — bestenfalls.
Doch selbst die Varanger-Eiszeit ging zu Ende, vor 600 Millionen Jahren — und gab den Blick frei auf ein Zeitalter, das bis vor kurzem noch in geheimnisvollem Dunkel lag.
Willkommen im Garten Eden, im Ediacarium.
Hier begegnen sie uns wieder, unsere Freunde aus Miss Evolutions Krabbelgruppe. Die Ozeane sind durchflutet von Sonnenlicht, das die Böden der Flachmeere erhellt. Es herrscht reges Treiben. Offenbar haben genügend Lebewesen den Kälteschock überlebt. Archäen, Bakterien und Eukaryonten reiben sich die Augen, schütteln die Winterkälte aus der Zellmembran und überlegen, was man so anstellen könnte. Der Meeresboden ist überzogen von einer Glibberschicht aus Cyanobakterien. Dicht unter der Wasseroberfläche treiben haarartige Rotalgen. Einige benthonische Cyanobakterien haben es sich an der Küste gemütlich gemacht und dort wahre Megastädte erbaut, die heute noch zu besichtigen sind. Stromato- lithen, breite Säulen aus wellig geschichtetem Kalk, die mit der Zeit langsam an Höhe gewannen. Ganze Kolonien von Cyanobakterien, auch bekannt als Mikrobenmatten, verarbeiteten dazu Sonnenlicht und Schwebstoffe und schieden Karbonate aus, die sich unter ihnen ablagerten. Mit jeder Kalkschicht kam ein neues Stockwerk hinzu. Stromatolith-City wuchs, obendrauf saßen die Erbauer, betrieben Photosynthese und produzierten fleißig Kalk.
Frühe Beispiele für den prähistorischen Städtebau finden sich bereits vor 3,5 Milliarden Jahren, womit Stromatolithen zu den ältesten von Lebewesen erbauten Strukturen überhaupt gehören. Nicht zuletzt die Kalkstädte bzw. ihre Konstrukteure haben den Sauerstoffanteil der Atmosphäre drastisch erhöht. Pompeji ist versunken, auch Venedig wird untergehen, aber bewohnte Stro- matholiten findet man selbst heute noch, etwa in der Shark Bay in Westaustralien. Die wussten eben noch zu bauen! Inzwischen hat die UNESCO die Kalkmetropolen zum Weltkulturerbe erklärt, was die Cyanobakterien sicher freuen würde, wenn es ihnen nicht am Arsch vorbeiginge.
Nach der Varanger-Episode kam Miss Evolution erst richtig in Schwung. Die Vorläufer ihrer künftigen Reiche, Tiere, Pflanzen und Pilze, waren versammelt, die Pilze hatten gar schon ihre Unabhängigkeit erklärt von der Eukaryontischen Union, während die anderen noch nicht recht wussten, ob sie Pflanzen oder Tiere werden wollten. Eigentlich waren sie ja eher Tiere? Oder doch Pflanzen? Oder was?
Tatsächlich ist das Ediacarium erst vor wenigen Jahren als neues geologisches Zeitalter erfasst worden. Bis dahin galten die letzten 90 Millionen Jahre des Präkambriums als Black Box, in der man nichts erblickte, was den abrupten Übergang zur komplexen Lebensvielfalt des anschließenden Kambriums erklären konnte. Das beginnt nach offizieller Zeitrechnung vor 542 Millionen Jahren mit einem Paukenschlag der Evolution, als wie aus dem Nichts eine Vielfalt hoch organisierter Lebewesen erscheint, mit Beinen, Augen, Zangen und Panzern, Kiemen, Flossen, Innereien und ungezügeltem Appetit auf den lieben Nachbarn. Was hatte die moderne Gesellschaft auf den Plan gerufen? Wie vereinbarte sich der Überraschungsauftritt mit dem Prinzip der stufenlos fließenden Entwicklung? Es war nicht anders, als würden befellte Humanoide, die eben noch grunzend und Keule schwingend durch die Flora taperten, plötzlich mit rasierten Gesichtern aus Flugzeugen winken und schlaue Sachen sagen wie »Cogito ergo sum« oder »E=mc 2 «.
Irgendetwas musste diesen Übergang ermöglicht haben, ein versunkenes Reich, das eine Brücke schlug zwischen Einzellern und einer Tierwelt, die binnen weniger Millionen Jahre über 100 verschiedene Baupläne herausbildete.
Leider sind Fossilien nicht sehr verlässlich. Harte Bestandteile erhalten sich im Sediment ganz prima, Weiches hingegen wird im Handumdrehen von Horden marodierender Bakterien gefressen und verschwindet zur Gänze aus dem Diesseits, und bis zum Kambrium waren Vielzeller hundertprozentige Weicheier. Doch es gibt Ausnahmen. Glücklicherweise — für die Wissenschaft — ist den Weichlingen von Zeit
Weitere Kostenlose Bücher