Nachrichten aus einem unbekannten Universum
wegen der Mikrobenteppiche. Mehrere Millimeter dick, von niemandem belästigt, entzogen sie dem Sediment Nährstoffe; Cyanobakterien, Algen und Pilze in symbiotischer Geselligkeit, die einander Leckerlis zuschoben und sich lieb hatten. Kommen Ihnen die Tränen? Der amerikanische Geologe Mark McMenamin beschreibt es so in seinem Buch The Garden of Ediacara. Demzufolge waren die höchst entwickelten Lebewesen ihrer Zeit der Frieden in Person. Bis ihnen eine Übermacht schwer bewaffneter Radaubrüder vor rund 545 Millionen Jahren den Garaus machte.
Und wovon lebten die braven Pazifisten so ganz ohne Mund und Schlund? McMenamin, der wie Seilacher glaubt, das komplexe Leben habe sich zweimal entwickelt, vermutet im strömenden Wasser genügend Nährstoffe, außerdem hätten die Mikrobengemeinschaften ihren Obulus an verwertbaren Stoffen ausgeschieden, und verdaut wurde via Außenhaut. Fortbewegen konnten sie sich auch, durch Ausstülpen ihrer Körperhülle. Sollten Seilacher und McMenamin Recht behalten, wäre das Ediacarium tatsächlich eine Periode alternativen Lebens gewesen. Hätte es überdauert, wäre die Erde heute vielleicht von intelligenten makroskopischen Einzellern bewohnt, und die Kreationen Giorgio Armanis würden nicht von Models über den Laufsteg getragen, sondern von Luftmatratzen. Die Sache hätte durchaus Vorteile — wer einem dumm käme, dem würde man einfach die Luft rauslassen —, aber dennoch: So an der Evolutionslehre zu rütteln, da muss man sich ja Feinde machen!
Matratzengegner werfen der Seilacher-Fraktion denn auch vor, sie hätten einfach nicht richtig hingeschaut. Bloß weil die Weichlinge im groben Quarz ein undeutliches Bild abgäben, sei das kein Grund, gleich E.T. heraufzubeschwören. Tentakelchen sähe man da, Keimdrüsen, Kiemen, Kopf und Därme. Hätten die Herrschaften mal ihre Brillen geputzt, statt dummes Zeug zu reden, hätte ihnen auffallen müssen, dass das Tiere sind, was denn sonst?
Spannend bleibt es allemal. Seilacher muss sich möglicherweise mit dem Gedanken anfreunden, doch nur die Ahnen kommender Generationen vor Augen zu haben. Die Ediacara-Wesen haben eine ganze Weile den gleichen Lebensraum in Anspruch genommen wie die Kreaturen des Kambriums und sind vielleicht Vorläufer von Ringelwürmern, Quallen und Korallen. Tierisches Leben existierte parallel zur Ediacara-Fauna, möglicherweise sogar vorher, wie Seilacher selbst bewiesen hat. Zudem fanden Forscher in der südchinesischen Doushantuo-Formation Spuren tierischer Embryonen aus dem Präkambrium, winzige bläuliche und hellgraue Zellkügelchen, teils in verschiedenen Stadien der Teilung und wohl auf dem besten Wege zu Nesseltieren. Welchen Sinn hätte die gleichzeitige Entwicklung völlig fremdartigen, eigenständigen Lebens haben sollen? Hinzu kommt, dass Rieseneinzeller gar nicht so exotisch sind, wie es sich bei Seilacher liest: Die Tiefsee-Spezies Xenophyophoria zum Beispiel ist ein zeitgenössischer Vertreter solcher Zellgiganten, ausgestattet mit mehreren Zellkernen und einem Cytoskelett für halbwegs aufrechte Haltung. Sie steht den Ediacara-Wesen an Größe in nichts nach und weist im Übrigen dieselben Merkmale auf wie Seilachers gesteppte Urviecher.
Derzeit wähnen sich die Befürworter der Theorie, wonach die angeblichen Luftmatratzen einfach Tiere sind, im Aufwind. Ob oder ob das nicht stimmt, berührt eine andere Diskussion, die nicht minder kontrovers geführt wird: Gab es eine Kambrische Explosion oder nicht?
Inzwischen räumt Adolf Seilacher ein, einige der merkwürdigen Organismen seien möglicherweise tatsächlich Vorläufer von Schwämmen. Ungeachtet dessen repräsentieren er und McMenamin ehern eine Minderheit von Forschern, die an der Theorie einer alternativen Lebensentwicklung festhalten. Auch warum die Dinger vom Erdboden getilgt wurden, weiß Seilacher zu erklären, mit einem Argument übrigens, das die Gegenseite teilt. Die Weichlinge wurden aufgefressen, ratzeputz. Was McMenamin zutiefst bedauert, denn: »Hier ist eine Form von Intelligenz ausgelöscht worden, die sehr, sehr anders war als heutiges Leben. Die Ediacara-Wesen sind ein zweites Experiment des Lebens. Diese Formen erhöhen dramatisch die Möglichkeit intelligenter Organismen auch auf anderen Planeten.«
Oder auch nicht. Denn einer kann so intelligent sein, wie er will. Wenn er außerdem friedfertig ist, wird er gefressen. Die Rote Königin ist ein brutales Weib!
Im Mai 2004 wurde das Ediacarium mit Ritterschlag in
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