Nacht der Versuchung
dabeizusitzen.
9. KAPITEL
Am Ende der Woche fand Mariella die erzwungenen Arbeitspausen zunehmend frustrierend.
„Es gefällt mir gar nicht, dass Sie so entschlossen sind, nicht zu heiraten,
chérie“
, plauderte Madame Flavel in der ihr eigenen Art. „Ist eine unglückliche Liebe der Grund dafür?“
„Man könnte es so ausdrücken“, antwortete Mariella gutmütig.
„Er hat Ihnen also das Herz gebrochen, aber Sie sind jung, und die Zeit heilt alle Wunden …“
„Er hat nicht mir, sondern meiner Mutter das Herz gebrochen“, unterbrach Mariella den Redeschwall der alten Dame, „und die Wunde ist nie wirklich verheilt, nicht einmal, als meine Mutter meinen Stiefvater kennen lernte und heiratete. Sie hat meinem Vater vertraut, als er ihr sagte, er liebe sie, hat sich ganz auf ihn verlassen … und er hat dieses Vertrauen belohnt, indem er uns beide im Stich gelassen hat.“
„Ich verstehe, und weil Ihr Vater Ihre Mutter und Sie so tief verletzt hat, sind Sie entschlossen, selber nie einem Mann zu vertrauen?“ bemerkte Madame Flavel. „Wissen Sie, nicht alle Männer sind wie Ihr Vater,
chérie.“
„Mag sein, aber ich will das Risiko erst gar nicht eingehen.“ Mariella war froh, dass Alis Auftauchen dieses Gespräch zumindest vorläufig beendete.
Es war zwei Uhr nachmittags, und Madame Flavel machte ihren Mittagsschlaf. Mariella ging ruhelos durch den Garten. Es drängte sie, an ihrem Fries weiterzuarbeiten. Schließlich blieb sie stehen, fasste einen Entschluss und eilte ins Haus zurück, um Fleur zu holen.
Ali nickte nur wortlos, als sie ihn rief, um ihm zu sagen, dass sie mit Fleur zur Rennbahn zurückwolle. Die Mittagshitze draußen war unerträglich, und die Luft flirrte in der gleißenden Sonne. Aber der Wagen war angenehm klimatisiert, ebenso wie die Loge und der Zugang, in dem Mariella arbeitete, und sobald Ali sie und Fleur hineinbegleitet hatte, machte sie sich an die Arbeit.
Inzwischen war eine transportable Arbeitsbühne errichtet worden, die es ihr erlaubte, auch im oberen Bereich der Wand zu arbeiten. Fleur schlief tief und fest in ihrem Kinderwagen, und Mariella nutzte die Zeit, um konzentriert am Ebenbild des stolzesten und wildesten Hengstes des Prinzen zu malen, der mit wehender Mähne aus der schäumenden See galoppierte.
Irgendwann nahm sie am Rande wahr, dass eine Tür geöffnet wurde und sich Schritte näherten. Fleur war anscheinend aufgewacht und gluckste vergnügt und zufrieden vor sich hin. Immer noch war Mariella ganz in ihre Arbeit vertieft. Aber plötzlich bemerkte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung und wandte sich um. Sie erstarrte wie vom Donner gerührt, als sie Xavier sah, der neben Fleurs Kinderwagen stand.
„Xavier …“ Unwillkürlich wollte sie einen Schritt nach vorn machen, besann sich aber noch rechtzeitig, dass sie ja auf der Arbeitsbühne stand. „Was tun Sie hier?“ fragte sie angriffslustig, um ihre Befangenheit zu überspielen.
„Wissen Sie eigentlich, welchen Kummer Sie Cecille bereitet haben, indem Sie meine Anweisungen missachtet haben?“ fragte er schroff.
Mariella wich seinem Blick aus. Sie mochte Madame Flavel und wollte ihr wirklich keine Schwierigkeiten machen. „Es tut mir Leid, wenn sie sich aufgeregt hat“, sagte sie und seufzte. „Aber ich habe Seiner Hoheit versprochen, den Fries so schnell wie möglich fertig zu stellen. Ihre Tante ist eine alte Dame, die ihre Nachmittagsruhe braucht, wohingegen ich die Zeit nutzen muss, um zu arbeiten. Ob Sie es glauben oder nicht, Xavier, auch ich muss an … meinen Ruf denken.“
„Und warum kommen Sie dann nicht zu mir und erklären mir das alles, anstatt sich wie ein kleines Kind zu benehmen und sich davonzustehlen, sobald meine Tante Ihnen den Rücken zukehrt?“
Mariella schwieg nachdenklich. Sein Einwand klang vernünftig und nur allzu verständlich oder nicht? „Ihr … bisheriges Benehmen mir gegenüber hat mich nicht gerade ermutigt, bei Ihnen Hilfe oder Kooperation zu erwarten“, sagte sie ehrlich, stieg von der Arbeitsbühne herunter und reckte dabei die schmerzenden Glieder.
„Meine Tante will es zwar nicht wahrhaben, aber sie ist wirklich eine alte Dame“, räumte Xavier ein. Im nächsten Moment sprang er auf sie zu. „Vorsicht!“
Die Arbeitsbühne schwankte bedenklich unter ihren Füßen, und Mariella verlor das Gleichgewicht. Mit einem leisen Aufschrei fiel sie vornüber, aber Xavier fing sie geistesgegenwärtig auf und half ihr sicher zu Boden.
Mariella
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