Nacht der Versuchung
Dame, die Xaviers französische Großtante war, war eine halbe Stunde zuvor mit imposantem Gepäck und einer nicht weniger beeindruckenden persönlichen Zofe in der Villa eingetroffen. „Ich arbeite nämlich genau genommen nicht im Palast, sondern in der neuen Familienloge auf der Rennbahn. Und ehrlich gesagt bin ich nicht einer Meinung mit Xavier …“
„Oh, aber ich fürchte, hier in Zuran müssen wir uns an die Sitten des Landes halten,
chérie
.“ Madame Flavel verdrehte theatralisch die Augen. „Ich weiß noch genau, wie schwer es mir anfangs gefallen ist. Meine Schwester war bereits mit Xaviers Großvater verheiratet, als ich hierher kam. Sie war mehr als zehn Jahre älter als ich. Seit dem Tod meines Mannes lebe ich abwechselnd in Paris und hier in Zuran. Das Baby ist Khalids Kind?“ wechselte sie dann nahtlos das Thema. „Er ist ein sehr charmanter junger Mann, aber leider etwas schwach und oberflächlich. Und er kann von Glück sagen, dass Xavier so nachsichtig mit ihm ist. Wie Sie aber vermutlich wissen, hat Xavier ja nicht vor zu heiraten und plant, dass letztendlich ein Sohn von Khalid einmal seine Aufgaben als Stammesoberhaupt übernimmt. Eine große Dummheit, wenn Sie mich fragen …“
„Xavier hat nicht vor zu heiraten?“ fragte Mariella verwundert.
„Das behauptet er jedenfalls. Der Tod seiner Eltern hat ihn tief getroffen. Er war damals in einem empfindsamen Alter, und meine Schwester, seine Großmutter, war eine strenge Matriarchin der alten Schule. Ihr war es vor allem wichtig, ihm seine Verantwortung gegenüber seinem Stamm nahe zu bringen und ihn so zu erziehen, dass er fähig war, seine diesbezüglichen Pflichten zu erfüllen. Nun stellt Xavier die Bedürfnisse seines Stammes über die eigenen und will deshalb nicht riskieren, eine Frau zu heiraten, die die Bedeutung seiner Rolle als Führer des Stammes nicht begreift und unterstützt. Blanker Unsinn, aber so sind die Männer! Sie betrachten uns gern als das schwache Geschlecht, dabei wissen wir doch ganz genau, dass wir die Stärkeren sind!“ Die alte Dame zwinkerte Mariella wissend zu. „Sie haben viel Kraft, das sehe ich. Und Sie werden das Kind vermissen, wenn Sie es schließlich seiner Mutter zurückgeben müssen.“
Mariella schluckte. Madame Flavels Scharfsinn verschlug ihr die Sprache.
„Wie ich sehe, haben Sie für sich nicht das Zimmer meiner verstorbenen Schwester ausgewählt. Eine höchst kluge Entscheidung“, plauderte Madame munter weiter. „Ich habe sowieso nie verstanden, warum sie mit aller Macht versucht hat, unsere elterliche Wohnung in der Avenue Foche hier nachzugestalten. Aber das war typisch für Sophia! Als ältestes Kind war sie extrem eigenwillig, wohingegen ich …“, sie lächelte schalkhaft, „die Jüngste bin und, zumindest Sophias Ansicht nach, extrem verwöhnt war.
Sie hätten sie übrigens nicht gemocht“, überraschte die alte Dame Mariella im nächsten Moment erneut mit ihrer Direktheit. „Sophia hätte nur einen Blick auf Sie geworfen und sofort angefangen, Hochzeitspläne für Sie und Xavier zu schmieden. Sie glauben mir nicht? Ich darf Ihnen versichern, dass es wahr ist. Meine Schwester hätte sofort gesehen, dass Sie die ideale Frau für Xavier wären.“
Sie, die ideale Frau für Xavier? Ein merkwürdiges Gefühl durchzuckte Mariella, und sie unterdrückte es sofort. „Ich habe nicht die Absicht, überhaupt jemals zu heiraten“, sagte sie rasch.
„Sehen Sie? Das allein zeigt schon, wie viel Sie und Xavier gemeinsam haben.“ Madame Flavel winkte ab. „Aber ich bin nicht meine Schwester. Ich mische mich nicht in das Leben anderer Menschen ein und versuche es zu manipulieren.
Non!
Aber ich bin neugierig. Warum haben Sie sich entschieden, nicht zu heiraten? Bei Xavier ist das relativ einleuchtend. Meine Schwester hat ihm die Sorge eingeimpft, dass er keine Frau finden könne, die bereit sei, seine Hingabe an seine Lebensaufgabe, die traditionelle Lebensweise seines Stammes, zu schützen und zu bewahren, zu teilen. Das ist natürlich Unsinn, aber Sophia hat es größtenteils selbst verschuldet. Sie hat Xavier als jungen Mann nach Frankreich geschickt, in der Hoffnung, er würde unter den Töchtern in unseren Kreisen eine passende Braut finden. Aber diese Mädchen können nur in Paris existieren. Allein die Vorstellung, einmal im Jahr mit dem Stamm durch die Wüste zu ziehen, wie Xavier es immer getan hat, wäre ihnen unerträglich. Ja, Xavier braucht eine Frau, die die
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