Nacht der Versuchung
wusste, dass dieser Beinahe-Unfall allein ihre Schuld war. Viel zu lange hatte sie in einer verkrampften Stellung gearbeitet und sich nicht einmal eine Pause zum Trinken gegönnt. Aber anstatt sie triumphierend zu maßregeln, wie sie es insgeheim erwartete, hielt er sie einfach nur fest und drückte sie an sich. Seine Nähe machte Mariella ganz benommen. Sie schloss die Augen, aber dadurch wurde es nur noch schlimmer. Verlockende, ungemein erotische Bilder stiegen vor ihr auf. Sie spürte, wie ihr die Knie weich wurden und sie am ganzen Körper zitterte.
„Mariella? Was ist?“ fragte Xavier besorgt. „Fühlen Sie sich nicht gut …?“
Sofort blickte sie auf. „Nein, nein …“ Sie verstummte. Wie gebannt ruhte ihr Blick verlangend auf seinem Mund.
Die plötzlich so bedeutsame Stille verriet ihr, dass Xavier fühlte, was in ihr vorging. Aber die warnende Stimme ihrer Vernunft blieb ungehört inmitten des Aufruhrs ihrer leidenschaftlichen Gefühle. Mariella war machtlos, brachte nicht mehr die Willenskraft auf, sich dagegen anzustemmen. Ganz am Rande registrierte sie, dass Xavier sie jetzt in unmissverständlicher Weise an sich presste und den Blick bedeutsam über ihre halb geöffneten Lippen schweifen ließ. Mariella erschauerte. Ganz unwillkürlich ließ sie die Zungenspitze über die Lippen gleiten und blickte mit angehaltenem Atem zu Xavier auf. Ihre großen, ausdrucksvollen Augen waren wie ein Spiegelbild ihrer Seele.
„Mariella!“
Sie spürte, wie er tief einatmete, und schmiegte sich an ihn. Langsam beugte er sich herab und küsste sie, so zärtlich und innig, dass Mariella alles um sich her vergaß und sich ganz in diesem Kuss verlieren wollte.
Im nächsten Moment hörte Xavier, wie sich über den Gang Schritte näherten, und schob Mariella gegen ihren Protest von sich fort. Noch völlig benommen sah sie zu, wie Xavier seinem Chauffeur Ali entgegenging.
Sie hob die Hand und berührte ihre Lippen, als könnte sie nicht glauben, was geschehen war. Und sie hatte es gewollt … sie hatte gewollt, dass Xavier sie küsste, wollte es immer noch. Alles in ihr sehnte sich danach, ihm in einer Weise zu gehören, wie sie es kaum zu träumen wagte. Aber … sie und Xavier waren doch Feinde, oder nicht?
Er kam zu ihr zurück. Irgendwie musste sie sich fassen und vor ihm verbergen, was mit ihr los war. Panik schnürte ihr die Kehle zu.
„Wir müssen sofort zur Villa zurück“, sagte Xavier schroff.
„Was ist los?“ fragte sie sofort besorgt. „Ist etwas mit deiner Tante?“
Er sah, dass sie ihre Malutensilien einzusammeln anfing, und hielt sie davon ab. „Lass das alles liegen.“ Schon war er bei Fleurs Kinderwagen und schob ihn davon.
Mariella hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, und wurde überdies von schlechtem Gewissen geplagt. Was, wenn Madame Flavel etwas zugestoßen war, nur weil sie, Mariella, so eigensinnig Xaviers Anordnungen übergangen hatte?
In angespanntem Schweigen fuhren sie zur Villa zurück. Als sie auf dem Hof vorfuhren, gab Xavier Ali noch einige Anweisungen auf Arabisch. Dann stieg er aus, nahm Fleur aus dem Auto und wandte sich an Mariella: „Komm mit!“
Sogar Fleur schien seine ernste Stimmung zu spüren. Schweigend und mit großen Augen blickte die Kleine zu ihm auf, als er sie Mariella übergab. Mariella schickte einmal mehr ein Stoßgebet zum Himmel, dass Madame Cecille nichts passiert sei, als ein Diener ungewohnt förmlich die beiden Flügel des großen Eingangsportals öffnete und sie Xavier in die angenehme Kühle der Eingangshalle folgte.
Ohne sich nach ihr umzublicken, begab sich Xavier auf direktem Weg in das Vorzimmer, das in den großen Salon führte, den Xavier für geschäftliche Besprechungen nutzte. Wie stets flankierten zwei Diener in Livree die Eingangstür. Mariella, die erwartet hatte, dass Xavier den Salon vor ihr betreten würde, stieß fast mit ihm zusammen, als er unerwartet vor ihr stehen blieb. Er drehte sich zu ihr um, und sie sah verwirrt, dass er die Hand nach ihr ausstreckte und sie an seine Seite bat.
Sie drückte Fleur ein wenig fester an sich und folgte zögernd seiner Aufforderung. Ihr Herz pochte schneller, als sie so nahe neben Xavier stand, dass sie seine Wärme spüren konnte. Xavier nickte den beiden Dienern zu, und die stießen die beiden Türflügel auf.
Obwohl Mariella auf Madame Flavels Drängen hin bereits schon früher einen Blick in den großen Salon geworfen hatte, war sie im ersten Moment richtig geblendet von seiner
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