Nacht des Ketzers
della Mirandola keuchend die Treppe zum Speisesaal heraufkam. Der Procurator schien sich zu beeilen, als hätte er Angst, etwas zu verpassen. Trotz seiner über sechzig Jahre nahm er meist zwei Stufen auf einmal, seine beiden Kammerdiener hechelten hinterher. Oben angekommen, sah er beide erwartungsvoll an.
„Nun, verehrter della Mirandola, Ihr kommt gerade recht“, begrüßte Beccaria den Procurator mit einem breiten Grinsen. „Seine Exzellenz, der Kardinal, wollte eben ausführen, wie er diesen gottlosen Ketzer endlich seiner gerechten Strafe zuführen wird. Sei der Bursche auch noch so hartnäckig, wir werden uns doch von so einem nicht an der Nase herumführen lassen, nicht wahr, Exzellenz?“
„Ganz recht, verehrter Beccaria, ganz recht.“ Bellarmin hatte sich entschlossen, die beiden doch an seinen Plänen teilhaben zu lassen. „Zuerst werde ich …“
„Vielleicht könnt Ihr Euch ja das alles sparen, verehrter Kardinal“, unterbrach ihn Beccaria jäh. Triumphierend wedelte er mit einem Brief vor den erstaunten Gesichtern Bellarmins und della Mirandolas. Seine Zähne hatte er auf die Unterlippe gesetzt, was ihm das Aussehen eines Nagetieres verlieh.
„Ich denke, dieses Schreiben hier wird alles ändern.“
Kapitel 9
Giordano wachte von einem Stimmengewirr auf. Wie lange hatte er geschlafen, und was war das für ein Lärm vor dem Haus? Mit einem Ruck setzte er sich auf. Seine Beine schmerzten, und er hatte großen Durst. Die Sonne stand schon sehr hoch. Es konnte gut schon auf Mittag zugehen. Sehr ungewöhnlich für ihn, der sich sonst bereits um vier Uhr früh mit den anderen Mönchen zum Gebet in der Klosterkapelle versammelte. Vorsichtig sah er aus einem Fenster. Das grelle Sonnenlicht blendete ihn, so dass er schützend eine Hand über die Augen halten musste. Seine Mutter stand wild gestikulierend mit zwei anderen Frauen im Schatten eines Kastanienbaums. Ab und zu deutete sie zu ihm herüber, und die Blicke der Frauen folgten ihrer Bewegung. Giordano zuckte kurz zurück, dachte, man habe ihn gesehen, schmunzelte dann aber. Dummer Esel, schalt er sich selbst. Was konnten ein paar alte Weiber schon von ihm wollen? Ihn der Inquisition ausliefern? Vermutlich waren es Nachbarinnen, die bereits von seiner Ankunft erfahren hatten und nun neugierig seine Mutter belagerten, um herauszufinden, was ihr Sohn denn fernab von Neapel hier wolle.
„Filip… Giordano, komm doch“, seine Mutter, die ihn nun bemerkt hatte und sich rasch verbesserte, nachdem er ihr als eine der wenigen Informationen am Abend zuvor mitgeteilt hatte, dass er von nun an nur noch Giordano genannt werden wolle. Neben seinem Bett stand wie früher ein Krug Wasser. Er benetzte sich kurz seine Augen und trat dann zögerlich ins Freie.
„Sieht er nicht prachtvoll aus? Mein Junge!“ Die Frauen warteten respektvoll in der Nähe, bis seine über das ganze Gesicht strahlende Mutter, die nun sichtlich stolz ihren Sohn präsentieren konnte, das Eis brach. Gleich darauf ergoss sich ein Schwall von Fragen über ihn, die er geduldig ertrug. „Genug, genug!“ Giordanos Mutter musste ihren Sohn nun in Schutz nehmen. „Ihr seht doch, dass der Junge von der langen Reise noch geschwächt ist.“
Er lächelte. „Schon gut, Mutter, lass nur. Ich werde ein paar Wochen, vielleicht sogar Monate hier in meinem Elternhaus bleiben und dann Gelehrte in ganz Europa besuchen, um mit ihnen über Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften zu diskutieren.“ Giordano wusste um die Wirkung seiner Worte und auch, dass damit fürs Erste alle weiteren Fragen ein Ende hatten. Seine Mutter genoss stolz den Eindruck, den ihr Sohn auf die beiden Nachbarsfrauen, biedere Bäuerinnen wie sie selbst, machte. „Du hast sicher Hunger.“
Giordano setzte sich auf eine Bank an der Hausmauer, spürte die Wärme, die von dem alten Gemäuer ausging. Unweit des Hauses sah er zwei kleine Jungen sichtlich vergnügt auf ihren Eseln über die steinigen Felder reiten. Erst jetzt nahm er die Stille wahr. Die Nachbarinnen, aber auch seine Mutter waren verschwunden. Ein paar Sperlinge auf der Suche nach Essensresten hüpften zögernd heran. Eine Fliege versuchte immer wieder, auf seinen Armen zu landen. Welch herrlicher Duft. Ligusterhecken säumten den schmalen Weg, der von der Hauptstraße herauf zum Haus der Brunos führte. Feigen und Kastanienbäume spendeten reichlich Schatten. Das Meer in der Ferne wirkte beruhigend auf ihn – das hatte es damals, als er als
Weitere Kostenlose Bücher