Nacht des Orakels
abgeschnitten, trieb in Gedanken frei umher und stellte mir vor, an meinem Schreibtisch in Brooklyn zu sitzen und über diese Wohnung in meinem blauen Notizbuch zu schreiben, während ich zur selben Zeit, fest in meinem Körper verankert, tatsächlich in eben dieser Wohnung im obersten Stock eines Hochhauses in Manhattan saß und mir anhörte, was John und Grace miteinander besprachen, und sogar selbst die eine oder andere Bemerkung dazu machte. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn jemand so konzentriert ist, dass er geistesabwesend wirkt – aber Letzteres war ich gerade nicht. Ich war anwesend, ich war da, gänzlich am Geschehen beteiligt, und doch war ich es auch nicht – denn das «da» war jetzt kein authentisches «da» mehr. Es war ein trügerischer Ort, der in meinem Kopf existierte, und dort war ich nun eben auch. An beiden Orten zur selben Zeit. In der Wohnung und in der Geschichte. In der Wohnung in der Geschichte, die ich im Kopf immer weiterschrieb.
John schien mehr Schmerzen zu haben, als er zugeben wollte. Als er uns die Tür aufmachte, stützte er sich auf eine Krücke, und als ich ihn die Treppe hochhumpeln und dann zu seinem Platz auf dem Sofa hinken sah – einem riesigen, durchgesessenen Ding mit einem Berg ausKissen und Decken für sein Bein –, zuckte er bei jedem Schritt merklich zusammen. Aber John war nicht der Typ, davon großes Aufhebens zu machen. Er hatte am Ende des Zweiten Weltkriegs als Achtzehnjähriger im Pazifik gekämpft, und er gehörte der Generation von Männern an, für die es Ehrensache war, niemals Selbstmitleid zu haben, und die jede Hilfe oder Anteilnahme verächtlich von sich wiesen. Von ein paar Witzen über Richard Nixon abgesehen, der dem Wort
Phlebitis
während seiner Amtszeit zu einem gewissen komischen Beigeschmack verholfen hatte, weigerte John sich standhaft, sein Gebrechen zum Thema zu machen. Nein, das ist nicht ganz richtig. Nachdem wir in das obere Zimmer getreten waren, erlaubte er Grace, ihm aufs Sofa zu helfen und die Kissen und Decken wieder herzurichten, wobei er für seine «schwachsinnige Klapprigkeit» um Verzeihung bat. Als er dann saß, wandte er sich zu mir und sagte: «Wir sind schon ein Pärchen, was, Sid? Du mit deinem Tatterich und Nasenbluten, und ich jetzt mit diesem Bein. Verdammt, wir sind die Krüppel des Universums.»
Trause hatte nie sonderlich auf sein Äußeres geachtet, aber an diesem Abend erschien er mir besonders ungepflegt, und aus dem zerknitterten Zustand seiner Jeans und des Baumwollsweaters – ganz zu schweigen von der grauen Tönung, die sich auf den Sohlen seiner weißen Socken ausgebreitet hatte –, musste ich schließen, dass er diese Sachen schon einige Tage lang angehabt hatte. Dazu passte sein zerzaustes Haar, das, nachdem er in der vergangenen Woche so viele Stunden auf dem Sofa gelegen hatte, am Hinterkopf ganz steif und platt gedrückt war. Und er sah abgemagert aus, beträchtlich älter, als er je zuvor auf mich gewirkt hatte, aber wenn ein Mann Schmerzenhat und diese Schmerzen ihn um viele Stunden Schlaf bringen, kann man wohl kaum erwarten, dass er wie das blühende Leben aussieht. Mich beunruhigte sein Anblick jedenfalls nicht, aber Grace, sonst der unerschütterlichste Mensch, den ich kenne, schien Johns Zustand ganz aus der Fassung zu bringen. Ehe wir endlich das Essen bestellen konnten, quetschte sie ihn geschlagene zehn Minuten lang nach Ärzten, Medikamenten und Prognosen aus, und als er ihr versichert hatte, dass er nicht sterben werde, ging sie zu praktischen Fragen über: Einkaufen von Lebensmitteln, Kochen, Müll runterbringen, Wäsche, der ganze Alltagskram. Madame Dumas habe das alles unter Kontrolle, sagte John; er meinte die Frau aus Martinique, die seit zwei Jahren seine Wohnung sauber machte und, wenn sie selbst nicht kommen konnte, ihre Tochter schickte. «Zwanzig Jahre alt», fügte er hinzu, «und sehr intelligent. Übrigens auch hübsch anzusehen. Sie geht nicht, sie schwebt durchs Zimmer, so als würden ihre Füße den Boden gar nicht berühren. Das gibt mir die Möglichkeit, meine Französischkenntnisse anzuwenden.»
Lässt man die Sache mit seinem Bein einmal beiseite, schien er froh, uns zu sehen, und sprach mehr als sonst bei unseren Zusammenkünften, ja, er plauderte ohne Unterbrechung fast den ganzen Abend lang. Ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, der Schmerz hat ihm die Zunge gelöst. Das Reden muss ihn von dem Tumult in seinem Bein abgelenkt, ihm eine hektische
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