Nacht des Orakels
Art von Erleichterung verschafft haben. Das, und dazu die ungeheuren Mengen Alkohol, die er zu sich nahm. Bei jeder neuen Weinflasche, die wir entkorkten, hielt John als Erster sein Glas hin, und von den drei Flaschen, die wir an diesem Abend tranken, floss etwa die Hälfte in seinen Organismus.Das macht anderthalb Flaschen Wein, auf die er gegen Ende noch zwei Gläser Scotch kippte. Ich hatte in der Vergangenheit schon ein paar Mal erlebt, dass John so viel trank, aber so viel er auch intus haben mochte, er machte nie einen betrunkenen Eindruck. Kein Genuschel, kein glasiger Blick. Er war ein großer, schwerer Mensch – knapp einsneunzig, gut neunzig Kilo – und konnte was vertragen.
«Eine Woche bevor die Sache mit dem Bein losging», sagte er, «rief mich Tinas Bruder Richard an. 5 Ich hatte lange nichts mehr von ihm gehört. Genau genommen seitder Beerdigung, das heißt also seit acht Jahren – seit mehr als acht Jahren. Ich hatte schon während unserer Ehe nicht viel mit ihrer Familie zu tun gehabt, und als sie dann gestorben war, hatte ich mir nicht die Mühe gemacht, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Sie mit mir übri gens auch nicht – nicht dass mir das etwas ausgemacht hätte. Diese Ostrow-Brüder mit ihrem schäbigen Möbel laden an der Springfield Avenue und ihren langweiligen Frauen und mittelmäßigen Kindern. Tina hatte acht oder neun Vettern und Cousinen ersten Grades, aber sie war die Einzige, die so etwas wie Esprit besaß, die Einzige,die den Mut hatte, aus dieser kleinen New-Jersey-Welt auszubrechen und ihren eigenen Weg zu gehen. Daher überraschte es mich, als Richard neulich anrief. Er lebe neuerdings in Florida, erzählte er, und sei gerade geschäftlich in New York. Ob ich Lust habe, mit ihm essen zu gehen? Irgendein nettes Restaurant, sagte er, du bist eingeladen. Da ich nichts anderes vorhatte, nahm ich an. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe, aber es gab keinen zwingenden Grund, das Angebot abzulehnen; jedenfalls verabredeten wir uns für den nächsten Abend um acht Uhr.
5
Tina war Johns zweite Frau. Seine erste Ehe hatte zehn Jahre gehalten (von 1954 bis 1964) und mit der Scheidung geendet. In meiner Gegenwart sprach er nie davon, aber von Grace wusste ich, dass Eleanor in ihrer Familie nicht sonderlich beliebt gewesen war. Für die Tebbetts war sie hochnäsig und kalt wie ein Fisch, eine typische Bryn-Mawr-Absolventin aus einem alten Aristokratengeschlecht aus Massachusetts, die auf Johns Arbeiterklassen-Familie aus Paterson in New Jersey nur von oben herabsah. Belanglos, dass Eleanor eine angesehene Malerin war, deren Ruf dem von John kaum nachstand. Niemand wunderte sich, als die Ehe aufgelöst wurde, und niemand bedauerte, dass Eleanor ging. Schade sei nur, hatte Grace gesagt, dass John gezwungen gewesen sei, in Kontakt mit ihr zu bleiben. Nicht weil ihm danach gewesen sei, sondern wegen der ständigen Eskapaden ihres ungebärdigen, äußerst labilen Sohnes Jacob.
Dann hatte er die Ballettchoreographin Tina Ostrow kennen gelernt; sie war zwölf Jahre jünger als er, und als er sie 1966 heiratete, lobten die Tebbetts seine Entscheidung. Sie waren zuversichtlich, dass John endlich die Frau gefunden hatte, die er verdiente, und die Zeit gab ihnen Recht. Tina, klein und voller Energie, war eine entzückende Person, hatte Gracie gesagt, und liebte John (in Graces Worten) «bis zur Anbetung». Das einzige Problem mit dieser Ehe war, dass Tina nicht einmal das siebenunddreißigste Lebensjahr erreichte. Achtzehn Monate währte ihr Kampf gegen den Gebärmutterkrebs, ehe sie ihm erlag; und nachdem John sie begraben hatte, zog er sich für lange Zeit zurück, «erstarrte einfach und hörte sozusagen auf zu atmen», sagte Grace. Er ging für ein Jahr nach Paris, dann nach Rom, dann in ein kleines Küstendorf im Norden Portugals. Als er 1978 nach New York zurückkehrte und die Wohnung in der Barrow Street bezog, war es genau drei Jahre her, seit er seinen letzten Roman veröffentlicht hatte, und man munkelte, Trause habe seit Tinas Tod kein einziges Wort mehr geschrieben. Seitdem waren vier weitere Jahre vergangen, und noch immer hatte er nichts hervorgebracht – zumindest nichts, was er irgendjemandem hätte zeigen wollen. Aber er arbeitete. Ich wusste, dass er arbeitete. Das hatte er mir selbst gesagt, aber um was für eine Arbeit es sich handelte, wusste ich nicht, einfach weil ich nicht den Mut gehabt hatte, ihn danach zu fragen.
Zu Richard muss ich noch was sagen. Er war mir
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