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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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wenig bemerkenswerten Restaurant, nahmen eine wenig bemerkenswerte Mahlzeit zu uns und sprachen von nichts sonderlich Wichtigem, als Richard plötzlich von seinem Teller aufblickteund mir eine Geschichte zu erzählen begann. Deswegen habe ich euch diesen ganzen Vorspann aufgetischt – um zu Richards Geschichte zu gelangen. Ich weiß nicht, ob ihr mir zustimmen werdet, aber für mich war das so ziemlich das Interessanteste, was ich seit langer Zeit gehört habe.
    Vor drei oder vier Monaten ging Richard in seine Garage, um etwas zu suchen, und in irgendeiner Pappschachtel stieß er auf einen alten 3- D-Betrachter . Er entsann sich dunkel, dass seine Eltern das Ding gekauft hatten, als er noch ein Kind war, konnte sich aber an das Wozu und Weshalb nicht mehr erinnern. Falls er das Erlebnis nicht aus seinem Gedächtnis gelöscht hatte, war er sich ziemlich sicher, dass er nie in dieses Kästchen hineingeblickt, ja, es überhaupt noch nie in der Hand gehabt hatte. Als er es aus der Schachtel nahm, um es genauer zu betrachten, stellte er fest, dass es sich nicht um so ein billiges, leichtes Ding handelte, mit dem man vorfabrizierte Bilder von Sehenswürdigkeiten und Landschaften anschauen kann. Es war ein gediegenes, solide gebautes Instrument, ein erstklassiges Relikt aus der Zeit der 3- D-Begeisterung Anfang der Fünfziger. Die Mode war bald verebbt, jedenfalls ging es darum, mit einer Spezialkamera 3- D-Bilder zu fotografieren, sie als Dias entwickeln zu lassen und sich dann in dem Betrachter anzusehen, der praktisch als dreidimensionales Fotoalbum diente. Die Kamera war nicht mehr da, aber Richard fand eine Schachtel mit Dias. Es waren nur zwölf, sagte er, woraus man schließen könnte, dass seine Eltern mit ihrer Modekamera nur einen einzigen Film voll geknipst hatten – und sie dann irgendwo verstaut und schließlich vergessen hatten.
    Ohne zu wissen, was ihn erwartete, schob Richard einDia in den Betrachter, drückte auf den Knopf für die Hintergrundbeleuchtung und sah hinein. In einem einzigen Augenblick, sagte er, waren dreißig Jahre seines Lebens weggewischt. Es war 1953, und er stand im Wohnzimmer seines elterlichen Hauses in West Orange, New Jersey, zwischen den Gästen auf der Party zu Tinas sechzehntem Geburtstag. Alles kam ihm ins Gedächtnis zurück: das Geburtstagsständchen, die Lieferanten, die in der Küche das Essen auspackten und Sektgläser auf der Anrichte aufreihten, das Klingeln an der Tür, die Musik, das Stimmengewirr, Tinas Chignonfrisur, das Rauschen ihres langen gelben Kleids. Eins nach dem andern schob er die Dias in den Betrachter, alle zwölf. Alle waren sie da, sagte er. Seine Mutter und sein Vater, seine Cousinen und Vettern, seine Tanten und Onkel, seine Schwester, die Freundinnen seiner Schwester, und auch er selbst, ein dünner Vierzehnjähriger mit spitzem Adamsapfel, kurz geschorenem Haar und roter Ansteckfliege. Das war anders als normale Fotos, erklärte er. Es war auch anders als Heimkino – die verwackelten Szenen und ausgebleichten Farben vermitteln ja immer den enttäuschenden Eindruck einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Die 3- D-Bilder hingegen waren unglaublich gut erhalten und übernatürlich scharf. Sämtliche Personen darauf wirkten lebendig, überschäumend vor Energie, ganz gegenwärtig; sie gehörten zu einem ewigen Jetzt, das seit knapp dreißig Jahren unaufhörlich fortexistiert hatte. Intensive Farben, die winzigsten Details in äußerster Klarheit, und dazu die Illusion von Raum und Tiefe. Je länger er die Dias betrachtete, sagte Richard, desto stärker wurde das Gefühl, er könne die Gestalten atmen sehen, und jedes Mal wenn er aufhörte und das nächste nahm, schien es ihm,dass sie, wenn er nur ein wenig länger hinsähe – nur noch eine Sekunde   –, tatsächlich anfangen würden, sich zu bewegen.
    Nachdem er sich jedes Dia einmal angesehen hatte, sah er sich alle ein zweites Mal an, und jetzt wurde ihm nach und nach bewusst, dass die meisten Leute auf diesen Bildern inzwischen tot waren. Sein Vater, 1969 an einem Herzinfarkt gestorben. Seine Mutter, 1972 an Nierenversagen gestorben. Tina, 1974 an Krebs gestorben. Und von seinen sechs Tanten und Onkeln, die an jenem Tag dabei gewesen waren, hatten ebenfalls bereits vier das Zeitliche gesegnet. Auf einem Bild stand er mit seinen Eltern und Tina im Vorgarten. Nur sie vier – untergehakt, aneinander gelehnt, eine Reihe von vier lächelnden Gesichtern, albern und ausgelassen, für die Kamera

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