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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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immer als Leichtgewicht erschienen, ein substanzloser Mensch. Er war ein Jahr jünger als Tina, also ist er jetzt dreiundvierzig, und abgesehen von ein paar ruhmreichen Momenten als Basketballspieler an der Highschool ist er praktisch immer nur durchs Leben gestolpert, von zwei oder drei Colleges geflogen, von einem miesen Job in den nächsten geschlittert, nie verheiratet, nie richtig erwachsen geworden. Ein freundliches Wesen, das wohl schon, aber seicht und ohne Schwung, und sein blödes Gefasel ist mir immer auf die Nerven gegangen. So ziemlich das Einzige, was mir je an ihm gefallen hat, war seine innige Zuneigung zu Tina. Er hat sie genauso sehr geliebt wie ich – das steht fest, ganz unbestritten   –, und ich kann und will nicht leugnen, dass er ihr ein guter Bruder, ein beispielhafter Bruder war. Du warst ja bei der Beerdigung, Gracie. Du weißt, was da passiert ist. Hunderte von Leuten waren gekommen, und jeder Einzelne in der Kapelle hat geschluchzt, gestöhnt, vor Entsetzen gejammert. Eine Flut gemeinsamer Trauer, Schmerz in einem Ausmaß, wie ich es noch nie erlebt hatte. Aber wer in diesem Raum am meisten getrauert hat, das war Richard. Er undich zusammen in der ersten Bank. Als er am Ende des Gottesdienstes aufstehen wollte, wurde er beinahe ohnmächtig. Ich musste meine ganze Kraft aufbieten, um ihn festzuhalten. Ich musste ihm buchstäblich unter die Arme greifen, damit er nicht zu Boden fiel.
    Aber das ist Jahre her. Wir durchlebten dieses Trauma gemeinsam, und dann verlor ich ihn aus den Augen. Als ich mich jetzt von ihm zum Essen einladen ließ, dachte ich, das liefe auf einen langweiligen Abend hinaus, ich würde zwei Stunden peinliche Unterhaltung über mich ergehen lassen und mich dann schleunigst auf den Heimweg machen. Aber ich habe mich geirrt. Ich sage gern, dass ich mich geirrt habe. Ich finde es immer belebend, neue Beispiele für meine Voreingenommenheit und Dummheit zu entdecken, mir bewusst zu werden, dass ich nicht halb so viel weiß, wie ich mir einbilde.
    Es begann schon mit der Freude, sein Gesicht zu sehen. Ich hatte vergessen, wie sehr er seiner Schwester ähnlich sah, wie viele Züge sie gemeinsam hatten. Form und Stellung der Augen, das runde Kinn, der elegante Mund, der Nasenrücken – das war Tina, im Körper eines Mannes, oder jedenfalls blitzte sie gelegentlich in ihm auf. Es überwältigte mich, auf diese Weise wieder mit ihr zusammen zu sein, wieder ihre Gegenwart zu spüren, zu spüren, dass ein Teil von ihr in ihrem Bruder weitergelebt hatte. Wie Richard sich umdrehte, wie er gestikulierte, wie er gewisse Bewegungen mit den Augen machte, das berührte mich so sehr, dass ich mich am liebsten über den Tisch gebeugt und ihn geküsst hätte. Mitten auf den Mund – einen dicken Schmatzer. Ihr werdet vielleicht lachen, aber ich bedaure wirklich, dass ich es nicht getan habe.
    Richard war immer noch Richard, genau der Richard von einst – nur dass er sich irgendwie wohler fühlte in seiner Haut. Er ist verheiratet und hat zwei kleine Töchter. Vielleicht hat ihm das geholfen. Vielleicht hat es ihm auch geholfen, acht Jahre älter zu werden, keine Ahnung. Er plagt sich immer noch mit irgendeinem seiner erbärmlichen Jobs herum – Vertreter für Computerersatzteile, Rationalisierungsberater, ich hab’s vergessen   –, und er verbringt noch immer jeden Abend vor dem Fernseher. Football, Sitcoms, Krimis, Natursendungen – er schwärmt für alles, was aus dem Kasten kommt. Aber er liest nicht, geht nicht wählen, tut erst gar nicht so, als habe er eine Meinung zu dem, was in der Welt vorgeht. Er kennt mich seit sechzehn Jahren, und in dieser ganzen Zeit hat er sich nicht ein einziges Mal die Mühe gemacht, eins meiner Bücher aufzuschlagen. Das ist mir natürlich egal, ich erwähne es nur, um zu zeigen, wie träge er ist, wie gründlich es ihm an Neugier mangelt. Und doch habe ich diesen Abend mit ihm genossen. Ich habe es genossen, ihn über seine Lieblingssendungen reden zu hören, über seine Frau und die zwei Töchter, über sein Tennis, das immer besser werde, über die Vorteile des Lebens in Florida im Vergleich zu New Jersey. Besseres Klima, ihr versteht schon. Keine Schneestürme und eiskalten Winter mehr; das ganze Jahr über Sommer. So gewöhnlich, Kinder, so beschissen selbstgefällig, und doch – wie soll ich sagen? – absolut in Frieden mit sich selbst, so zufrieden mit seinem Leben, dass ich ihn fast dafür beneidet habe.
    Da saßen wir also in einem

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