Nacht des Orakels
Intelligent, wie sie nun einmal war, bedachte sie mich mit ihrem wunderbaren, rätselhaften Lächeln und wandte sich dann wieder dem Herd und ihrem Tee zu.
Irgendwann am Nachmittag hörte der Regen auf, und einige Stunden später fuhren wir im verbeulten blauen Ford einer örtlichen Mietwagenfirma über die Brooklyn Bridge zu unserem vierzehntägigen Abendessen mit John Trause. Seit meiner Heimkehr aus dem Krankenhaus trafen wir drei uns regelmäßig jeden zweiten Samstagabend zum Essen, und zwar abwechselndbei uns zu Hause in Brooklyn (wo wir für John kochten) und zu ausgiebigen Fressorgien im Chez Pierre, einem teuren neuen Restaurant im West Village (wo John stets darauf bestand, die Rechnung zu übernehmen). Ursprünglich waren wir für halb acht in der Bar des Chez Pierre verabredet gewesen, aber Anfang der Woche hatte John angerufen und gesagt, mit seinem Bein sei etwas nicht in Ordnung, wir würden den Termin streichen müs sen . Wie sich herausstellte, hatte er einen Anfall von Phlebitis (eine von einem Blutgerinnsel hervorgerufene Venenentzündung), aber am Freitagnachmittag hatte John noch einmal angerufen und uns mitgeteilt, es gehe ihm schon wieder etwas besser. Er dürfe zwar nicht gehen, sagte er, aber wenn wir nichts dagegen hätten, ihn in seiner Wohnung zu besuchen und uns Essen aus dem Chinarestaurant kommen zu lassen, bräuchte unser gemeinsamer Abend nicht auszufallen. «Ich würde dich und Gracie sehr gern sehen», sagte er. «Und da ich sowieso etwas essen muss, können wir das doch auch hier gemeinsam tun, oder? Solange ich das Bein hochlege, habe ich kaum noch Schmerzen.» 4
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John war der einzige Mensch auf der Welt, der sie immer noch
Gracie
nannte. Nicht einmal ihre Eltern taten das noch, und ich selbst, der ich seit über drei Jahren mit ihr zusammen war, hatte sie nicht ein einziges Mal mit diesem Kosenamen angesprochen. Aber John kannte sie schon sein Leben lang – buchstäblich seit dem Tag ihrer Geburt –, und im Lauf der Zeit hatte er eine Reihe besonderer Privilegien erworben, die ihn vom Rang eines Freundes der Familie in den eines inoffiziellen Blutsverwandten erhoben hatten. Er war gewissermaßen ihr Lieblingsonkel – oder, wenn man so will, der Pate ohne Geschäftsbereich.
John hatte Grace sehr gern, und sie ihn nicht minder, und da ich der Mann in Graces Leben war, hatte John mich im inneren Kreis der ihm Nahestehenden willkommen geheißen. In der Phase meines Zusammenbruchs hatte er viel Zeit und Energie geopfert, um Grace durch die Krise zu helfen, und als ich schließlich nach meinem Scharmützel mit dem Tod auf dem Weg der Besserung war, kam er jeden Nachmittag ins Krankenhaus, um mir am Bett Gesellschaft zu leisten – um mich (wie mir später klar wurde) im Diesseits zu halten. Als Grace und ich ihn an jenem Abend (des 18. September 1982) zum Essen besuchten, gab es in ganz New York zweifellos niemanden, der ihm so nahe stand wie wir beide. Ebenso wie uns niemand nä her stand als John. Das erklärt wohl, warum unsere gemeinsamen Samstagabende ihm so viel bedeuteten und warum er trotz der Erkrankung seines Beins den Termin nicht hatte ausfallen lassen wollen. Er lebte allein, und da er sich selten in der Öffentlichkeit blicken ließ, waren unsere Treffen so ziemlich sein wichtigster gesellschaftlicher Umgang, seine einzige Chance, ein paar Stunden ungestörter Unterhaltung zu genießen.
Ich hatte Johns Wohnung für meine Geschichte in dem blauen Notizbuch requiriert, und als wir jetzt in der Barrow Street ankamen und er uns die Tür aufmachte, hatte ich das seltsame, durchaus nicht unangenehme Gefühl, einen imaginären Raum zu betreten, einen Raum, den es in Wirklichkeit gar nicht gab. Ich war schon unzählige Male in Trauses Wohnung gewesen, aber jetzt, nachdem ich in meiner eigenen Wohnung in Brooklyn stundenlang darüber nachgedacht und sie mit den erfundenen Gestalten meiner Geschichte bevölkert hatte, schien sie mir ebensosehr der Welt der Phantasie wie der realen, mit soliden Gegenständen und lebendigen Menschen ausgestatteten Welt anzugehören. Wider meine Erwartung legte dieses Gefühl sich nicht. Wenn überhaupt, verstärkte es sich im Lauf des Abends noch, und als gegen halb neun das chinesische Essen gebracht wurde, war ich bereits dabei, mich in einen Zustand einzuleben, den ich (mangels eines besseren Ausdrucks) als doppeltes Bewusstsein bezeichnen muss. Ich war ein Teil dessen, was um mich herum vorging, und gleichzeitig war ich davon
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