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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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von mir ist oder von John. So lange wie möglich schiebt sie es auf, mir davon zu erzählen, aber sie leidet, denn sie glaubt, ihre Sünden fallen nun auf sie zurück und lassen sie nicht mehr los, sie glaubt, das sei die verdiente Strafe für ihr Verhalten. Deswegen bricht sie am Abend des achtzehnten im Taxi in Tränen aus und wird so aggressiv, als ich ihr von dem Blauen Team erzähle. Eine Bruderschaft des Guten, so etwas gibt es nicht, sagt sie, weil auch die besten Menschen manchmal Schlechtes tun. Deswegen spricht sie plötzlich von Vertrauen und von harten Zeiten, die man durchstehen müsse; deswegen fleht sie mich an, ich solle nicht aufhören, sie zu lieben. Und deswegen fängt sie, als sie mir schließlich von dem Kind erzählt, auch gleich von der Abtreibung an. Das hat nichts mit unseren finanziellen Problemen zu tun – der Grund ist, dass sie nicht weiß, wer der Vater ist. Dieses Nichtwissen macht sie beinahe kaputt. So will sie eine Familie nicht gründen, aber sie kann mir auch die Wahrheit nicht sagen, und da ich im Dunkeln tappe, greife ich sie an und versuche sie zu überreden, das Kind auszutragen. Falls ich überhaupt etwas richtig mache, dann nur, als ich am nächsten Morgen klein beigebe und ihr versichere, nur sie habe darüber zu bestimmen. Zum ersten Mal seit Tagen erahnt sie die Möglichkeit einer freien Entscheidung. Sie läuft weg, um allein zu sein, jagt mir eine Heidenangst ein, als sie die ganze Nacht über wegbleibt, doch als sie am nächstenMorgen zurückkommt, wirkt sie ruhiger, wieder imstande, klar zu denken, weniger verängstigt. Sie braucht nur noch wenige Stunden, um herauszufinden, was sie tun will, und dann spricht sie mir jene außerordentliche Nachricht auf den Anrufbeantworter. Sie kommt zu dem Schluss, dass sie mir eine Geste der Loyalität schuldet. Sie zwingt sich dazu zu glauben, dass das Kind von mir ist, und schiebt alle Zweifel von sich weg. Das ist ein gewagter Schritt, der auf reinem Vertrauen beruht, und jetzt begreife ich, welchen Mut es erfordert hat, zu diesem Entschluss zu gelangen. Sie will mit mir verheiratet bleiben. Die Episode mit Trause ist beendet, und so lange sie weiter mit mir verheiratet bleiben will, werde ich niemals ein Wort über die Geschichte verlieren, die ich soeben in das blaue Notizbuch geschrieben habe. Ich weiß nicht, ob sie wahr oder erfunden ist, aber das ist mir letztlich egal. Solange Grace mich haben will, ist die Vergangenheit ohne Belang.

 
    An der Stelle hörte ich auf. Ich schob die Kappe auf den Füller, erhob mich vom Schreibtisch und brachte das Fotoalbum ins Wohnzimmer zurück. Es war noch früh – ein Uhr, vielleicht halb zwei Uhr nachmittags. Ich machte mir in der Küche was zu essen, und als ich das Sandwich verdrückt hatte, ging ich mit einer kleinen Plastikmülltüte in mein Arbeitszimmer zurück. Eine nach der andern riss ich die Seiten aus dem blauen Notizbuch und zerfetzte sie in kleine Schnipsel. Flitcraft und Bowen, das Geschmier über das tote Baby in der Bronx, meine Seifenopernversion von Graces Leben – alles wanderte in dieMülltüte. Nach einer kurzen Pause fand ich, ich sollte auch die leeren Seiten zerreißen und in die Tüte stopfen. Dann band ich sie mit einem strammen Doppelknoten zu, und als ich wenige Minuten darauf zu meinem Spaziergang aufbrach, nahm ich das Bündel mit nach unten. Auf der Court Street wandte ich mich nach Süden und ging so lange, bis ich Changs leeren, zugeschlossenen Laden mehrere Blocks hinter mir gelassen hatte, und an einer Kreuzung angelangt, warf ich, aus keinem anderen Grund als dem, dass ich weit weg von zu Hause war, die Tüte in einen Mülleimer und begrub sie unter einem Strauß welker Rosen und der Comicbeilage der
Daily News.

 
    Zu Beginn unserer Freundschaft erzählte mir Trause eine Geschichte von einem französischen Schriftsteller, mit dem er Anfang der fünfziger Jahre in Paris verkehrt hatte. An den Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber John sagte, er habe zwei Romane und eine Erzählungssammlung veröffentlicht und als eine große Hoffnung der jungen Generation gegolten. Er schrieb auch Gedichte, und kurz bevor John 1958 nach Amerika zurückging (er hatte sechs Jahre lang in Paris gelebt), brachte sein Bekannter ein episches Gedicht heraus, das ein ganzes Buch umfasste und vom Ertrinken eines kleinen Kindes handelte. Zwei Monate nach Erscheinen des Buchs reiste der Autor mit seiner Familie in die Normandie, und am letzten Tag des Urlaubs

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