Nacht des Orakels
Arbeitszimmer darin herumblätterte, musste ich an die Geschichte von Trauses Schwager und seinem 3- D-Be trachter denken: von den Bildern in die Vergangenheit gezogen, erlebte ich ein ganz ähnliches Gefühl der Versunkenheit.
Grace als Neugeborenes in ihrem Bettchen. Grace mit zwei, da steht sie nackt im hohen Gras und streckt lachend die Arme zum Himmel. Grace mit vier und sechs und neun – da sitzt sie an einem Tisch und malt ein Haus; da grinst sie mit einem Mund voller Zahnlücken in die Kamera des Schulfotografen; da reitet sie auf einer kastanienbraunen Stute durch die Landschaft von Virginia. Grace mit zwölf, da trägt sie einen Pferdeschwanz, zieht vor Verlegenheit ein komisches Gesicht, fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut; und dann Grace mit fünfzehn, plötzlich hübsch, ausgeprägt, die früheste Verkörperung der Frau, zu der sie sich dann entwickelte. Es gab auch Gruppenbilder: Familienporträts der Tebbetts, Grace mit verschiedenen unbekannten Highschool- und Collegefreunden;Grace als Vierjährige auf Trauses Schoß, die Eltern links und rechts daneben; ein Foto von ihrem zehnten oder elften Geburtstag, Trause, der sich zu ihr runterbeugt und sie auf die Wange küsst; Grace und Greg Fitzgerald, die auf einer Weihnachtsfeier bei Holst & McDermott Grimassen schneiden.
Grace mit siebzehn im Ballkleid. Grace mit langen Haaren und Rollkragenpullover als zwanzigjährige Collegestudentin in Paris, in einem Straßencafé eine Zigarette rauchend. Grace als Vierundzwanzigjährige mit Trause in Portugal, die Haare kurz, nun endgültig erwachsen, enormes Selbstbewusstsein ausstrahlend, ihrer selbst nun endlich sicher. Grace in ihrem Element.
Über eine Stunde lang sah ich mir die Bilder an, bevor ich zum Füller griff und zu schreiben anfing. Das Durcheinander der letzten Tage musste einen Grund gehabt haben, und da mir Fakten fehlten, die die eine oder andere Interpretation hätten stützen können, war ich ausschließlich auf meinen Instinkt und Vermutungen angewiesen. Es musste eine Geschichte geben, die Graces rätselhafte Stimmungsschwankungen erklärte, ihre Tränen, ihre unbegreiflichen Anspielungen, ihr Ausbleiben am Mittwochabend, ihr Ringen um eine Entscheidung, was das Kind betraf, und als ich mich hinsetzte, um diese Geschichte zu schreiben, begann und endete sie mit Trause. Ich konnte mich natürlich irren, aber nachdem die Krise jetzt vorüber war, fühlte ich mich stark genug, auch die finstersten, beunruhigendsten Möglichkeiten durchzuspielen. Stell es dir vor, sagte ich mir. Stell es dir vor, und dann sieh, was dabei herauskommt.
Zwei Jahre nach Tinas Tod reist die erwachsene, unwiderstehlich attraktive Grace nach Portugal, um Trause zubesuchen. Er ist fünfzig, ein vitaler, jugendlicher Fünfziger, und hat seit vielen Jahren aktiven Anteil an ihrer Entwicklung genommen – hat ihr Bücher geschickt, die sie lesen, und Gemälde empfohlen, die sie studieren soll, hat ihr beim Erwerb einer Lithographie geholfen, die einmal ihr größter Schatz werden sollte. Wahrscheinlich war sie seit ihrer Kindheit heimlich verknallt in ihn, und Trause, der sie ihr ganzes Leben lang gekannt hat, ist ihr schon immer sehr zugetan gewesen. Jetzt ist er ein einsamer Mann, der nach dem Tod seiner Frau immer noch um sein Gleichgewicht kämpft, und sie ist eine verliebte junge Frau in der Blüte ihrer Schönheit, glühend und leidenschaftlich und frei. Wer kann ihm Vorwürfe machen, dass er für sie entbrennt? Für mich jedenfalls stand fest, dass jeder normale Mann sich in sie verlieben musste.
Sie haben eine Affäre. Als Trauses vierzehnjähriger Sohn die beiden in Portugal besucht, empört ihn ihr verliebtes Getue. Er hat Grace noch nie gemocht, jetzt hat sie ihn auch noch von seinem Platz verdrängt und ihm den Vater weggenommen, und da nimmt er sich vor, ihr Glück zu sabotieren. Die beiden machen Fürchterliches durch. Am Ende wird er zu einer solchen Plage, dass sie ihn aus dem Haus jagen und zu seiner Mutter zurückschicken.
Trause liebt Grace, aber sie ist sechsundzwanzig Jahre jünger als er, die Tochter seines besten Freundes, und langsam aber sicher setzen sich die Schuldgefühle gegen das Verlangen durch. Er geht mit einem Mädchen ins Bett, dem er, als es klein war, Schlaflieder vorgesungen hat. Wäre sie irgendeine andere Vierundzwanzigjährige, gäbe es keinerlei Probleme. Aber wie kann er zu seinem ältesten Freund gehen und ihm sagen, dass er seineTochter liebt? Bill Tebbetts würde ihn als
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