Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Perversen beschimpfen und aus dem Haus werfen. Das gäbe einen Skandal, und wenn Trause fest bliebe und sie trotzdem heiratete, würde auch Grace darunter zu leiden haben. Ihre Familie würde sich von ihr abwenden, und das würde er sich nie verzeihen können. Also sagt er ihr, sie brauche einen Gleichaltrigen. Wenn sie bei ihm bleibe, sagt er, werde er sie zur Witwe machen, noch ehe sie fünfzig sei.
    Damit ist die Romanze vorbei. Niedergeschmettert, ungläubig, untröstlich kehrt Grace nach New York zurück. Anderthalb Jahre vergehen, und dann kommt auch Trause wieder nach New York. Er zieht in die Wohnung in der Barrow Street, und sie nehmen die Beziehung wieder auf, aber so sehr Trause sie liebt, bleiben doch die alten Zweifel und Konflikte. Er hält die Affäre geheim (damit nichts davon irgendwann zu ihrem Vater gelangt), und Grace spielt dabei mit; über eine mögliche Ehe macht sie sich jetzt, da sie den Mann wieder hat, keine Gedanken. Kollegen bei Holst & McDermott, die mit ihr ausgehen wollen, bekommen einen Korb. Ihr Privatleben ist allen ein Rätsel, die verschlossene Grace lässt kein Wort darüber verlauten.
    Anfangs geht alles gut, aber als sich nach zwei, drei Monaten ein gewisses Schema herausbildet, begreift sie, dass sie in einem Räderwerk gefangen ist. Trause will sie und will sie nicht. Er weiß, dass er auf sie verzichten sollte, aber er kann nicht auf sie verzichten. Er verschwindet und taucht wieder auf, entfernt sich und kommt wieder zurück, und wann immer er sie ruft, fliegt sie ihm in die Arme. Er liebt sie einen Tag lang, eine Woche, einen Monat, dann werden seine Zweifel zu mächtig, und er ziehtsich wieder zurück. So geht das Räderwerk immer im Kreis, immer weiter   … und Grace hat keine Möglichkeit, es anzuhalten. Sie kann nichts tun, sie kann an dem Schema nichts ändern.
    Dieser Irrsinn geht neun Monate lang so weiter, und dann erscheine ich auf der Bildfläche. Ich verliebe mich in Grace, und ungeachtet ihrer Beziehung zu Trause weist sie mich nicht rundweg ab. Ich setze ihr hartnäckig nach, wobei ich weiß, es gibt da noch jemand anderen, einen namenlosen Konkurrenten um ihre Gunst, aber selbst nachdem sie mich mit Trause bekannt gemacht hat (John Trause, gefeierter Schriftsteller und langjähriger Freund der Familie), kommt mir nie der Gedanke, dass er der andere Mann in ihrem Leben ist. Einige Monate lang wechselt sie zwischen uns beiden hin und her und kann sich nicht entscheiden. Wenn Trause schwankt, bin ich mit Grace zusammen; wenn Trause sie zurückhaben will, entzieht sie sich mir. Ich quäle mich durch diese Enttäuschungen, stets in der Hoffnung, die Dinge werden sich zu meinen Gunsten wenden, aber dann macht sie Schluss mit mir, und ich muss annehmen, ich habe sie für immer verloren. Vielleicht bereut sie ihren Entschluss, sobald sie wieder in das Räderwerk zurückgekehrt ist, oder vielleicht liebt Trause sie so sehr, dass er sich allmählich von ihr ablöst, weil er weiß, dass die Zukunft, die ich ihr verspreche, besser ist als das heimliche, ausweglose Leben, das er ihr zu bieten hat. Es ist sogar möglich, dass er sie dazu überredet, mich zu heiraten. Das würde ihren plötzlichen, unbegreiflichen Sinneswandel erklären. Sie will mich nicht nur zurückhaben, sondern sagt im selben Atemzug, dass sie meine Frau sein will, und je früher wir heiraten, desto besser.
    Zwei Jahre währt unser goldenes Zeitalter. Ich bin mit der Frau verheiratet, die ich liebe; ich schließe Freundschaft mit Trause. Er respektiert meine Arbeit als Schriftsteller, er unterhält sich gern mit mir, und wenn wir drei zusammen sind, kann ich keinerlei Hinweise auf sein früheres Verhältnis zu Grace entdecken. Er ist ihr ein herzlich zugeneigter, beinahe väterlicher Freund geworden, und so wie er in Grace eine imaginäre Tochter sieht, sieht er in mir einen imaginären Sohn. Immerhin hat er am Zustandekommen unserer Ehe mitgewirkt, und er will ganz gewiss nichts tun, das sie in Gefahr bringen könnte.
    Dann die Katastrophe. Am 12.   Januar 1982 breche ich in der Subwaystation an der 14th Street zusammen und stürze eine Treppe hinunter. Die Folgen: Knochenbrüche. Innere Blutungen. Zwei Kopfverletzungen. Neurologische Schäden. Ich werde ins St.   Vincent’s Hospital gebracht und für vier Monate dabehalten. In den ersten Wochen sind die Ärzte pessimistisch. Eines Morgens nimmt Dr.   Justin Berg Grace beiseite und sagt, sie hätten die Hoffnung aufgegeben. Ich hätte allenfalls

Weitere Kostenlose Bücher