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Nacht-Mähre

Titel: Nacht-Mähre Kostenlos Bücher Online Lesen
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Schweif, und das einzige, was sein imposantes Aussehen etwas schmälerte, war ein dünner Messingring, den er um sein linkes Vorderbein trug. Imbri hatte noch nie von irgendwelchen Pferden gehört, die Beinringe trugen – andererseits kannte sie aber auch nur die Pferde im Kürbis.
    Als er Imbri erblickte, blieb der Hengst stehen. Plötzlich wurde sie sich bewußt, wie verschieden sie voneinander waren: sie eine schwarze Mähre, er ein weißer Hengst. Sie hatte immer geglaubt, daß es in Xanth keine richtigen Pferde gäbe, nur Halb- oder Teilpferde wie Seepferdchen, Pferdefliegen und Zentauren.
    Ihre eigene Rasse, die Nachtmähren, existierte ganz für sich im Kürbis und schweifte nicht weiter umher, wenn sie nicht gerade beruflich unterwegs war. Schließlich gab es auch noch die Tagtraummähren, doch die waren für alle gänzlich unsichtbar und unstofflich, mit Ausnahme ihrer eigenen Artgenossen. Was machte dieses Wesen also hier?
    Sie beschloß, den Hengst zu fragen. Sie hätte einfach wiehern können, aber sie war sich nicht sicher, ob sie sich damit wirklich verständlich genug ausdrücken konnte. Also machte sie einen zaghaften Schritt nach vorn und projizierte einen kleinen Traum. Rein technisch gesehen war es ein Tagtraum, da ja auch Tag war – eine Art bewußter Vorstellung, viel milder und weniger intensiv als die Nachtvisionen, die sie normalerweise beförderte. Er war auch weniger vollkommen strukturiert, da sie keine Vorlage hatte, mit der sie hätte arbeiten können. In einem improvisierten Traum konnte so gut wie alles passieren!
    In diesem Traum nahm sie eine sprechende Form an, nämlich die Gestalt einer in Schwarz gekleideten Menschenfrau, mit glänzendem, schwarzem Haar anstelle einer Mähne und einem Rock statt eines Schweifs. »Wer bist du?« fragte das Traummädchen mit einem betörend schönen Lächeln.
    Der Schimmel legte erschreckt und mißtrauisch die Ohren an. Dann wirbelte er herum und galoppierte nach Westen davon.
    Imbri seufzte durch die Nase. Er hatte ja so gut ausgesehen! Doch anscheinend fürchtete er sich vor Menschen. Wenn sie das vorher gewußt hätte, hätte sie ihm etwas anderes gesandt, vielleicht einen sprechenden Vogel. Sollte sie ihm noch einmal begegnen, würde sie viel vorsichtiger verfahren.
    Sie reiste nach Westen weiter und gelangte schließlich an den Paß. Und dort, mitten im Weg, stand ein Mann. Für seine Rasse war er ganz gut gebaut, mit fahlem Haar und heller Haut, muskulös und auf Menschenweise gutaussehend. Natürlich konnte kein Mensch so attraktiv aussehen wie ein Pferd; das war einer der Nachteile, mit denen sich die menschliche Rasse anscheinend einigermaßen abgefunden hatte.
    »Heda, hübsche Mähre!« rief der Mann, als er sie erblickte. »Hast du einen weggelaufenen weißen Hengst gesehen? Er ist mein Reittier, aber er ist mir davongejagt. Er trägt meinen Ring am Vorderbein.« Und der Mann hob sein linkes Handgelenk, um ihr einen ähnlichen Reif zu zeigen. Kein Zweifel – er hatte wirklich mit dem Schimmel zu tun.
    Imbri projizierte einen kleinen Traum: sie selbst, wieder in Frauengestalt, erneut in Schwarz gekleidet, doch diesmal alle weiblichen Teile sorgfältig verhüllt. Sie wollte nicht schon wieder jemanden erschrecken! »Ich habe ihn vor kurzem gesehen, Mensch, aber er ist auch vor mir davongelaufen. Er ist in diese Richtung hier geflohen.«
    Der Mann blickte sie erstaunt an. »Bist du das gerade in meinem Geist gewesen, Mähre, oder habe ich mir das nur eingebildet?«
    »Ich bin es, Mensch«, erwiderte sie und setzte den Tagtraum für ihn fort. »Ich bin ein Traumpferd. Ich projiziere Träume an Wesen deiner Rasse, aber tagsüber sind sie wohl nicht ganz so überzeugend wie in der Nacht.« Sie hatte es zuvor zwar nicht gewußt, doch nun mußte sie feststellen, daß es zwischen Nacht- und Tagträumen keinen qualitativen Unterschied gab. Nur der bewußte Verstand der wachen Menschen war tagsüber weniger leichtgläubig, deshalb war die Wirkung der Tagträume auch schwächer. Denn bei ihnen konnten die Menschen leichter zwischen Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden. Doch die Träume blieben nach wie vor ein ausgezeichnetes Kommunikationsmittel.
    »Aha. Und du hast meinem Hengst, dem Tagpferd, etwa auch so einen Traum angedient? Kein Wunder, daß er in Panik davongejagt ist!«
    »Ich fürchte, meine Visionen können Wesen, die nicht auf sie vorbereitet sind, gehörig erschrecken«, projizierte sie und ließ ihre Frauengestalt als Zeichen

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