Nacht-Mähre
schrecklichere Mähre wird deine nächtlichen Pflichten übernehmen.«
»Aber ich kann doch gar nicht in den Tag hinaus!« protestierte sie voll entsetzter Hoffnung. Sie wußte, wie brutal und schrecklich manche der Mähren waren, mit wild dreinblickenden Augen und noch wilderen Manieren; die hatten nicht das geringste Mitleid mit den Schlafenden. Es bekümmerte sie, daß ihre Klienten nun der Macht solch eines Wesens überantwortet werden sollten.
»Einer der Unterschiede zwischen Nacht- und Tagmähren ist der Besitz einer Seele. Die Nachtwesen besitzen keine Seele; dafür besitzen die Tagwesen keinen Körper. Du wirst eine Art Halbwesen sein, mit einer halben Seele und einem halbstofflichen Körper. Ich werde einen Zauber über dich verhängen, der es dir ermöglicht, den Sonnenstrahlen zu trotzen.«
»Dann kann ich also am hellen Tag in die wirkliche Welt hinaus?«
»Du wirst als Verbindungsmähre zwischen den Mächten der Nacht und denen des Tages während der Krise fungieren.«
»Während der Krise?«
»Es ist von allergrößter Wichtigkeit, daß der Feind dein wahres Wesen nicht erkennt, sonst droht uns schlimmste Gefahr. Die Gegner müssen dich für ein ganz gewöhnliches Pferd halten.«
»Welche Gegner?«
»Das war in dem Traum enthalten, den du abgeliefert hast. Du bist recht nachlässig geworden, was solche Einzelheiten angeht.«
Bevor Imbri sich die Einzelheiten des letzten Traums ins Gedächtnis zurückrufen konnte, fuhr das Dunkle Pferd bereits fort: »Deshalb wirst du dich bei Chamäleon melden, um ihr als Reittier zu dienen.«
»Wem? Als was?«
»Das ist die Mutter von Prinz Dor, dem nächsten König von Xanth. Sie ist ein Teil des Schlüssels zur Rettung Xanths. Sie benötigt Transport und eben jene Art von Leitung und Hilfe, wie sie ihr nur eine Nachtmähre bescheren kann. Beschütze sie, Imbrium; sie ist viel wichtiger, als alle glauben. Du wirst ihr außerdem folgende Nachricht für König Trent überbringen: VORSICHT VOR DEM REITERSMANN!«
»Aber das verstehe ich nicht!« rief Imbri.
»Das brauchst du auch gar nicht.«
»Ich kenne doch weder Chamäleon noch König Trent! Denen habe ich noch nie irgendwelche Träume geliefert! Wie kann ich ihnen da eine Nachricht übermitteln?«
»Das ist Chamäleon«, sagte der Hengst und holte einen Spiegel aus der Luft, damit sie sich im Traumbild selbst betrachten konnte. Imbri war zwar nicht gerade geschult darin, menschliches Aussehen zu beurteilen, aber das Bild erschien ihr doch als recht häßlich. Genaugenommen war Chamäleon ein fürchterliches Weib. »Benutze deinen Träumersuchsinn, der funktioniert auch tagsüber. Und wenn du König Trent persönlich treffen mußt – der ist mein gegenwärtiges Bild.« Das Traumbild des Hengstes war auf ältliche Weise attraktiv – geradezu das Musterbild eines seit langem herrschenden Königs.
»Ich… ich versteh’ ja kaum etwas!« jammerte Imbri. »Das ist alles wie ein Alptraum!«
»Zugegeben«, sagte der Hengst. »Krieg ist nun einmal wie ein Alptraum. Aber der vergeht leider nicht zusammen mit der Nacht, und sein Übel währt noch viel länger als die eigentlichen Kämpfe. Der Krieg ist keine Warnung vor dem Übel – er ist das Übel selbst.«
»Krieg?«
Doch die Augen des Hengstes blitzten nur, und der Traum verblaßte. Imbri fand sich allein am Rande der weiten Grasebene wieder. Das Gespräch war beendet.
Imbri reiste durch das Reich der Nacht und verabschiedete sich von seinen Bewohnern: Messingmännchen, Papierleute und Flaschengeister, wandelnde Skelette im Friedhofsgebiet und Gespenster, die in einem Spukhaus wohnten. Alle trugen sie das Ihre dazu bei, um schreckliche Angstträume herzustellen, denn das war eine Gemeinschaftsanstrengung.
»Grüß meinen Freund Jordan von mir«, sagte eines der Gespenster. »Der spukt inzwischen auf Schloß Roogna.«
Imbri versprach es und gesellte sich schließlich zu ihren Freundinnen, den Mähren, mit denen sie so viele Jahre zusammengearbeitet hatte. Das war der schlimmste Teil des Abschiednehmens. Nun war es an der Zeit zu gehen. Imbri hatte den Tag aufgebraucht und die Nacht durchgrast und sich dabei auf den schrecklichen Übergang vorbereitet. Sie liebte ihren Beruf einer Überbringerin von Alpträumen, auch wenn sie ihn nicht mehr richtig ausüben konnte. Es war zwar aufregend, in den Tag hinaus zu dürfen, doch es war auch schrecklich, die Nacht verlassen zu müssen. Schließlich lebten alle ihre Freunde nur hier und nicht
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