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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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würde sich Geld von Mrs. Allen leihen, das Haus jetzt sofort verlassen, mit dem 16-Uhr-55-Zug nach London fahren, bei ihrer Kusine Catherine übernachten und gleich in der Frühe im A.T.S. eintreten. Bis Vater sie fand, würde es bereits zu spät sein.
    Der Plan war so einfach und wagemutig, daß sie kaum glauben konnte, er sei wirklich durchführbar. Doch ehe sie es sich überlegte, hörte sie sich bereits sagen: »Oh, Mrs. Allen, könnten Sie mir bitte etwas Geld leihen, ich will mir schnell noch etwas besorgen, möchte jedoch Vater nicht stören, er ist so beschäftigt.«
    Mrs. Allen zögerte nicht einen Moment. »Selbstverständlich, Mylady. Wieviel brauchen Sie?«
    Margaret hatte keine Ahnung, wieviel eine Fahrkarte nach London kostete, sie hatte noch nie selbst eine gekauft. Aufs Geratewohl
    antwortete sie: »Oh, ein Pfund müßte genügen.« Dabei dachte sie: Träume ich das nicht vielleicht nur?
    Mrs. Allen nahm zwei Zehnshillingscheine aus der Geldbörse. Sie hätte ihr wahrscheinlich sogar ihre gesamten Ersparnisse überlassen, wenn sie darum gebeten hätte.
    Margaret nahm das Geld mit zitternder Hand. Das kann meine Fahrkarte in die Freiheit sein, dachte sie, und trotz ihrer Angst flackerte eine kleine Hoffnungsflamme freudig in ihrer Brust.
    Mrs. Allen, die annahm, daß sie der bevorstehenden Abreise wegen so erregt war, drückte ihr die Hand. »Es ist ein trauriger Tag, Lady Margaret«, sagte sie. »Ein trauriger Tag für uns alle.« Bedrückt schüttelte sie ihr grauhaariges Haupt und verschwand in den hinteren Teil des Hauses.
    Margaret schaute wild um sich. Es war niemand zu sehen. Ihr Herz flatterte wie ein gefangener Vogel, und ihr Atem kam als flaches Keuchen. Sie wußte, daß sie den Mut verlieren würde, wenn sie zögerte. Sie wagte es nicht einmal mehr, sich einen Mantel zu holen. Mit den Geldscheinen in der Hand verließ sie das Haus.
    Der Bahnhof befand sich gute drei Kilometer entfernt in der nächsten Ortschaft. Bei jedem Schritt auf der Straße befürchtete Margaret, Vaters Rolls Royce hinter sich brummen zu hören. Aber woher sollte er wissen, was sie getan hatte? Es war unwahrscheinlich, daß irgend jemand sie vor dem Abendessen vermißte, und selbst wenn, würden sie annehmen, daß sie noch etwas einkaufte, wie sie Mrs. Allen gesagt hatte. Trotzdem zitterte sie vor Angst.
    Sie hatte noch viel Zeit, als sie den Bahnhof erreicht und ihre Fahrkarte gekauft hatte – es war sogar mehr als genug Geld übriggeblieben –, so setzte sie sich in den Wartesaal für Damen und beobachtete die Zeiger der großen Wanduhr.
    Der Zug hatte Verspätung.
    Sechzehn Uhr fünfundfünfzig verging, dann siebzehn Uhr, siebzehn Uhr fünf. Inzwischen war Margarets Angst so gewachsen, daß sie nahe daran war, aufzugeben und nach Haus zurückzukehren, nur um die Anspannung nicht mehr ertragen zu müssen.
    Um siebzehn Uhr vierzehn schließlich lief der Zug im Bahnhof ein, und Vater war noch immer nicht da. Margaret schlug das Herz bis zum Hals, als sie einstieg.
    Sie schaute aus dem Fenster auf den Bahnbeamten, der am Eingang die Karten lochte, und erwartete, daß ihr Vater im letzten Augenblick noch dort erscheinen und sie aus dem Zug holen würde.
    Endlich setzte sich der Zug in Bewegung.
    Sie konnte es kaum glauben, aber ihre Flucht schien zu glücken.
    Der Zug wurde schneller. Die erste zaghafte Begeisterung rührte sich. Wenige Sekunden später hatte der Zug den Bahnhof verlassen. Margaret sah zu, wie das Städtchen kleiner wurde, und ein Gefühl des Triumphs erfüllte sie. Sie hatte es geschafft – sie war entkommen!
    Plötzlich spürte sie, wie ihre Knie nachzugeben drohten. Sie schaute sich nach einem Sitzplatz um und bemerkte erst jetzt, wie überfüllt der Zug war. Jeder Platz war besetzt, sogar in der ersten Klasse, und auf dem Boden saßen Soldaten. Sie mußte sich mit einem Stehplatz zufriedengeben.
    Ihre Euphorie ließ nicht nach, obwohl die Fahrt objektiv betrachtet ein Alptraum war. Jedesmal, wenn der Zug anhielt, drängten sich weitere Fahrgäste in die Wagen. Dicht vor Reading mußte der Zug drei Stunden warten. Alle Glühbirnen waren wegen der Verdunkelung herausgeschraubt worden, so daß nach Einbruch der Dunkelheit völlige Finsternis im Zug herrschte, die nur hin und wieder von der Taschenlampe eines Schaffners durchbrochen wurde, der seinen Kontrollgang machte und über die Fahrgäste steigen mußte, die auf dem Boden saßen oder lagen. Als Margaret nicht mehr stehen konnte, setzte auch sie

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