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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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dieser Finsternis an die Augen einer Katze erinnerte, und plötzlich konnte sie den Bürgersteig bis zur Straßenecke sehen.
    Sie marschierte los.
    Der Wagen fuhr vorüber, seine roten Rücklichter verloren sich in der Dunkelheit. Margaret glaubte sich noch drei oder vier Schritte von der Ecke entfernt, als sie den Bordstein hinunterstolperte. Sie überquerte die Straße und fand den gegenüberliegenden Bürgersteig, ohne dort über den Randstein zu fallen. Das ermutigte sie, und sie ging mit mehr Selbstvertrauen weiter.
    Plötzlich schlug ihr etwas Hartes mit voller Wucht ins Gesicht.
    Sie schrie vor Schmerz und plötzlicher Angst auf. Einen Augenblick erlag sie blinder Panik und wollte umkehren und weglaufen. Mit aller Willenskraft beruhigte sie sich. Sie rieb die brennende Wange. Was in aller Welt war passiert? Wogegen konnte sie mitten auf dem Bürgersteig geprallt sein? Sie streckte beide Arme aus, berührte etwas und riß die Hände erschrocken zurück. Dann biß sie die Zähne zusammen und versuchte es noch einmal. Sie ertastete etwas Kaltes, Hartes, Rundes – wie eine übergroße Kuchenform, die mitten in der Luft schwebte. Ihre Hände glitten weiter und erfühlten eine runde Säule mit einer rechteckigen Öffnung. Als ihr bewußt wurde, was es war, lachte sie unwillkürlich trotz ihres schmerzenden Gesichts – ein Briefkasten hatte sie angegriffen!
    Sie tastete sich um ihn herum und tappte mit ausgestreckten Armen weiter.
    Nach einer Weile stolperte sie erneut über einen Bordstein. Nachdem sie wieder ins Gleichgewicht gekommen war, atmete sie erleichtert auf. Sie hatte Tante Marthas Straße erreicht. Nun bog sie nach links ab.
    Da erst kam ihr der Gedanke, daß Tante Martha die Klingel möglicherweise gar nicht hören würde. Sie lebte allein, es gab also niemanden sonst, der die Tür öffnen würde. Wenn Tante Martha sie tatsächlich nicht hörte, würde Margaret zu Catherines Gebäude zurückkehren und im Hausflur schlafen müssen. Es würde ihr nicht allzuviel ausmachen, auf dem Boden zu liegen, aber ihr graute davor, noch einmal durch die Finsternis tappen zu müssen. Vielleicht kauerte sie sich auch nur auf Tante Marthas Eingangsstufe zusammen und wartete den Tagesanbruch ab.
    Tante Marthas Häuschen befand sich am Ende eines langen
    Blocks. Schritt für Schritt bewegte Margaret sich vorsichtig weiter. Die Stadt war zwar dunkel, doch nicht still. Dann und wann war ein Wagen in der Ferne zu hören; Hunde bellten hinter Türen, an denen sie vorüberkam; Katzen sangen ihre mißtönende Liebeswerbung, ohne sie zu beachten; einmal hörte sie die beschwingten Klänge einer Party; und ein Stück weiter hatte ein Paar eine laute Auseinandersetzung hinter einem verdunkelten Fenster. Margaret sehnte sich danach, in einem hellen Zimmer mit einer Tasse Tee vor dem Kamin zu sitzen.
    Der Häuserblock kam ihr länger vor als in der Erinnerung. Aber sie konnte sich doch nicht verlaufen haben: Sie war an der zweiten Kreuzung nach links abgebogen. Trotzdem wuchs die Angst, daß sie sich verirrt hatte. Sie verlor das Zeitgefühl. Wie lange ging sie diesen Block schon entlang? Fünf Minuten? Zwanzig Minuten? Zwei Stunden oder bereits die ganze Nacht? Plötzlich war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob sich überhaupt Häuser in der Nähe befanden. Sie konnte ebensogut mitten im Hyde Park sein. Das gruselige Gefühl beschlich sie, daß ringsumher Monster lauerten, die nur auf ihr Stolpern warteten, um über sie herzufallen. Ein Schrei stieg in ihrer Kehle auf, sie vermochte ihn nur mühsam zurückzudrängen.
    Sie zwang sich, zu überlegen. Wo könnte sie falsch abgebogen sein? Sie wußte, daß es eine Kreuzung gewesen war, wo sie über den Randstein gestolpert war. Aber wie sie sich jetzt erinnerte, gab es außer den sich kreuzenden größeren Straßen auch Gassen, die die Straße durchzogen. Vielleicht war sie in eine davon eingebogen. Und inzwischen stapfte sie vielleicht bereits einen Kilometer oder mehr in die verkehrte Richtung.
    Vergeblich versuchte sie sich an das herrliche Gefühl von Aufregung und Triumph zu erinnern, das sie im Zug so berauscht hatte. Im Moment fürchtete sie sich nur, so ganz allein im Dunkeln.
    Sie blieb eine Weile stehen, bis sie jedes Zeitgefühl verloren hatte. Sie hatte Angst, sich überhaupt von der Stelle zu bewegen. Furcht lähmte sie. Sie würde hier einfach stehenbleiben, bis sie vor Erschöpfung in Ohnmacht fiel oder bis es hell wurde.
    Da näherte sich ein Wagen.
    Sein trübes

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