Nacht über den Wassern
sich auf den Boden. Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr, sagte sie sich. Ihr Kleid würde zwar entsetzlich schmutzig werden, aber morgen würde sie ohnehin schon Uniform tragen. Alles war anders: Es herrschte Krieg.
Margaret fragte sich, ob Vater inzwischen bereits von ihrer Flucht wußte, die richtigen Schlüsse gezogen hatte und sofort nach London gebraust war, um sie am Bahnhof Paddington abzufangen. Es war unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, jedenfalls hämmerte ihr Herz, als der Zug in London einfuhr.
Doch als sie schließlich ausstieg, war Vater nirgendwo zu sehen, und wieder erfüllte sie ein wildes Triumphgefühl. Er war eben doch nicht allwissend! Im Bahnhof war es düster wie in einer Höhle, trotzdem gelang es ihr, ein Taxi zu finden. Es fuhr sie nur mit Standlicht nach Bayswater. Der Fahrer benutzte eine Taschenlampe, um sie zu dem Gebäude zu bringen, in dem ihre Kusine Catherine eine Wohnung hatte.
Alle Fenster des Hauses waren verdunkelt, doch die Eingangshalle war hell beleuchtet. Der Portier hatte seinen Dienst längst beendet – inzwischen war es fast Mitternacht –, doch Margaret fand auch ohne seine Hilfe zu Catherines Wohnung. Sie stieg die Treppe hinauf und läutete.
Nichts rührte sich in der Wohnung.
Sie erschrak.
Wieder läutete sie, obwohl sie wußte, daß es sinnlos war: Die Wohnung war klein und die Glocke laut. Catherine war nicht da!
Es war eigentlich nicht verwunderlich, sie hätte damit rechnen müssen: Catherine lebte bei ihren Eltern in Kent und benutzte die Wohnung lediglich als zeitweilige Unterkunft. Mit Londons Gesellschaftsleben war es im Moment natürlich vorbei, und so hatte es für Catherine auch keinen Grund gegeben hierzubleiben.
Margaret war nicht niedergeschmettert, aber enttäuscht. Sie hatte sich schon darauf gefreut, Catherine bei einer Tasse heißer Schokolade alles über ihr großes Abenteuer zu erzählen. Das würde nun warten müssen. Sie überlegte, was sie jetzt tun könnte. Sie hatte mehrere Verwandte in London, aber die meisten von ihnen würden wohl gleich Vater anrufen. Catherine wäre eine großartige Verschwörerin gewesen, den anderen Verwandten dagegen konnte sie nicht trauen.
Da erinnerte sie sich, daß Tante Martha glücklicherweise gar kein Telefon hatte.
Eigentlich war sie eine Großtante, eine mürrische, richtige alte Jungfer von etwa siebzig Jahren. Sie wohnte einen guten Kilometer von hier entfernt und würde sicherlich ungehalten sein, mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen zu werden, aber das ließ sich jetzt nicht ändern. Wichtig war, daß sie keine Möglichkeit hatte, Vater darüber zu informieren, wo Margaret sich aufhielt.
Margaret stieg die Treppe wieder hinunter und trat hinaus auf die Straße – in totale Finsternis.
Die Dunkelheit war furchteinflößend. Margaret blieb vor der Haustür stehen und starrte mit weit aufgerissenen Augen um sich, konnte jedoch absolut nichts erkennen. Ein Gefühl der Übelkeit stieg in ihr auf, und ihr wurde leicht schwindelig.
Sie schloß die Augen und versuchte sich die vertraute Straßenszene vorzustellen. Hinter ihr befand sich Ovington House mit Ca- therines Wohnung; normalerweise fiel Licht aus verschiedenen Fenstern, und über dem Eingang brannte eine helle Lampe. An der Ecke zu ihrer Linken war die kleine Kirche der Marinehelferinnen, deren Portikus die ganze Nacht hindurch von Flutlicht angestrahlt wurde.
Entlang dem Bürgersteig standen Straßenlatemen in regelmäßigen Abständen, und jede warf einen kleinen Lichtkreis; und normalerweise gab es natürlich auch noch die Scheinwerfer von Omnibussen, Taxis und Autos.
Margaret öffnete die Augen wieder – alles blieb dunkel.
Es war entmutigend. Einen Moment lang bildete sie sich ein, daß es ringsum überhaupt nichts gäbe: keine Straße, keine Stadt – sie befand sich im Nichts und fiel durch beängstigende Leere. Sie schwankte wie eine Seekranke. Dann nahm sie sich zusammen und versuchte, sich den Weg zu Tante Marthas Haus in Erinnerung zu rufen.
Ich muß mich von hier aus ostwärts halten, überlegte sie, und an der zweiten Abzweigung nach links abbiegen. Tante Marthas Haus liegt am Ende dieses Blocks. Das dürfte selbst in dieser Dunkelheit leicht zu finden sein.
Sie sehnte sich nach irgend etwas, das diese schreckliche Dunkelheit unterbrach: ein beleuchtetes Taxi, den Vollmond oder einen hilfreichen Schutzmann. Einen Augenblick später erfüllte sich ihr Wunsch: Ein Wagen kroch herbei, dessen Standlicht sie in
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