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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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nie wieder sehen!« erklärte Vater.
    »Sag das nicht!« rief Margaret entsetzt.
    Mutter fing an zu weinen.
    »Lebt wohl« war alles, was Elizabeth antwortete.
    Margaret stand auf und schlang die Arme um ihre Schwester. »Viel Glück!« flüsterte sie.
    »Dir auch.« Elizabeth drückte sie kurz an sich.
    Sie küßte Percy auf die Wange, dann lehnte sie sich unbeholfen über den Tisch und küßte Mutters Gesicht, das tränennaß war. Schließlich blickte sie Vater noch einmal an und fragte mit bebender Stimme: »Gibst du mir zum Abschied nicht die Hand?«
    Sein Gesicht war eine Maske des Hasses. »Ich habe keine Tochter mehr«, sagte er.
    Mutter entrang sich ein klagender Schrei.
    Plötzlich war es ganz still im Wagen.
    Elizabeth drehte sich um und ging.
    Margaret wünschte sich, sie könnte ihren Vater am Kragen packen und schütteln. Seine sinnlose Sturheit machte sie wütend. Warum zum Teufel konnte er einfach nicht nachgeben? Dieses eine Mal wenigstens? Elizabeth war volljährig und nicht verpflichtet, ihren Eltern den Rest ihres Lebens zu gehorchen! Vater hatte kein Recht, sie zu verstoßen! In seiner Wut hatte er in kopfloser, rachsüchtiger Weise die Familie gespalten. In diesem Augenblick haßte Margaret ihren Vater. Während er in seiner selbstgerechten blinden Wut alles zerstörte, hätte sie ihm gerne gesagt, wie gemein, ungerecht und dumm er war. Doch wie immer, wenn es um Vater ging, preßte sie die Lippen zusammen und schwieg.
    Elizabeth kam mit ihrem roten Koffer in der Hand an ihrem Wagenfenster vorbei. Sie blickte sie alle an, lächelte unter Tränen und winkte zaghaft. Mutter fing an zu schluchzen. Percy und Margaret winkten zurück. Vater blickte stur geradeaus. Dann war Elizabeth aus ihrem Blickfeld verschwunden.
    Vater setzte sich, und Margaret folgte seinem Beispiel.
    Eine Pfeife trillerte, und der Zug fuhr weiter. Sie sahen Elizabeth in der Schlange am Ausgang noch einmal. Diesmal winkte sie weder, noch lächelte sie. Sie blickte nur traurig und grimmig drein.
    Der Zug nahm Geschwindigkeit auf, und bald war Elizabeth nicht mehr zu sehen.
    »Familienleben ist etwas Wundervolles«, bemerkte Percy. Trotz des Sarkasmus‘ war kein Humor in seiner Stimme, nur Bitterkeit.
    Margaret fragte sich, ob sie ihre Schwester je wiedersehen würde.
    Mutter tupfte sich die Augen mit einem kleinen Leinentüchlein, aber sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht aufhören zu weinen. Es war ungewohnt, daß sie ihre Fassung verlor. Margaret vermochte sich nicht zu erinnern, daß sie ihre Mutter je hatte weinen sehen. Selbst Percy wirkte erschüttert. Margaret bedrückte Elizabeths törichte Hinwendung zu einer so verabscheuungswürdigen Sache, trotzdem erfüllte sie auch Triumph. Ihre Schwester hatte es geschafft! Sie hatte sich Vater widersetzt, und er hatte nichts dagegen tun können! Sie hatte sich gegen ihn gestellt, hatte ihm eine Niederlage beigebracht und sich seiner Allmacht entzogen!
    Wenn Elizabeth das fertigbrachte, konnte sie es ebenfalls.
    Sie roch die See. Der Zug erreichte die Hafengegend und fuhr langsam an Lagerschuppen, Kränen und Überseedampfern vorbei. Trotz ihres Kummers über den Abschied von ihrer Schwester spürte Margaret einen Hauch von freudiger Erregung.
    Der Zug hielt an einem Gebäude, an dem groß IMPERIAL HOUSE stand. Es war ein ultramodernes Bauwerk, das ein wenig wie ein Schiff aussah: Die Ecken waren abgerundet, und das obere Stockwerk hatte eine breite Veranda wie ein Deck mit einer Reling.
    Wie die anderen Passagiere griffen auch die Oxenfords nach ihrem Handgepäck und stiegen aus dem Zug. Während ihr Reisegepäck vom Zug zum Flugzeug gebracht wurde, begaben sich alle ins Imperial House, um die letzten Abreiseformalitäten hinter sich zu bringen.
    Margaret war benommen. Die Welt um sie herum veränderte sich zu schnell. Sie hatte ihr Zuhause verlassen, ihr Vaterland befand sich im Krieg, sie hatte ihre Schwester verloren und war im Begriff, nach Amerika zu fliegen. Sie wünschte sich, sie könnte die Zeit für eine Weile anhalten, um wenigstens zu versuchen, mit allem ins reine zu kommen.
    Vater erklärte, daß Elizabeth nicht mitfliegen würde, und einer der Leute von Pan American sagte: »Geht in Ordnung – es wartet sowieso jemand hier, der hofft, daß ein Ticket zurückgegeben wird. Ich kümmere mich darum.«
    Margaret bemerkte, daß Professor Hartmann, eine Zigarette rauchend, in einer Ecke stand und sich wachsam umschaute. Er wirkte nervös und gehetzt. Menschen

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