Nacht über den Wassern
sich nach ihm umdrehte.
Elizabeth sprach weiter, als hätte er nichts gesagt. »Wenn ich erst dort bin, werde ich schon ein Schiff nach Deutschland bekommen.« »Und dann?« fragte Mutter.
»Ich habe Freunde in Berlin, Mutter, das weißt du ja.«
Mutter seufzte. »Ja, Liebes.« Sie klang sehr traurig, und Margaret spürte, daß sie sich mit Elizabeths Entschluß abgefunden hatte.
Vater sagte laut: »Auch ich habe Freunde in Berlin!«
Jetzt blickten mehrere Leute an den Tischen auf, und Mutter sagte: »Pst, Lieber, wir können dich alle sehr gut hören.«
Vater senkte die Stimme. »Ich habe Freunde in Berlin, die dich sofort zurückschicken werden!«
Unwillkürlich schoß Margarets Hand zum Mund. Natürlich! Vater konnte die Deutschen veranlassen, Elizabeth auszuweisen; in einem faschistischen Land konnte die Regierung tun, was sie wollte. Würde Elizabeths Fahrt schon bei der Ankunft bei irgendeinem verflixten Bürokraten enden, der ihr den Einreisestempel verwehrte?
»Das glaube ich kaum«, entgegnete Elizabeth.
»Wir werden sehen«, sagte Vater, und Margaret fand, daß es gar nicht mehr so selbstsicher klang.
»Sie werden mich mit offenen Armen aufnehmen, Vater.« Die Spur von Müdigkeit in ihrer Stimme ließ sie sogar noch überzeugender klingen. »Sie werden Presseerklärungen abgeben, damit die ganze Welt erfährt, daß ich aus England entkommen bin und mich auf ihre Seite geschlagen habe, genau wie es die niederträchtigen britischen Zeitungen groß hinausposaunen, wenn prominente deutsche Juden Landesflucht begangen haben.«
»Ich hoffe, sie erfahren nichts von Großmutter Fishbein«, meinte Percy ernsthaft.
Gegen Vaters Angriffe war Elizabeth gewappnet, aber Percys makabrer Humor ging ihr unter die Haut. »Sei still, du abscheulicher Bengel!« sagte sie und begann zu weinen.
Wieder räumte der Kellner an ihrem Tisch unberührte Teller ab. Als nächsten Gang gab es Lammkoteletts mit Gemüse. Der Kellner schenkte Wein ein. Mutter nahm einen Schluck, ein sicheres Zeichen, daß sie erregt war.
Vater fing an zu essen; er fiel mit Messer und Gabel über das Fleisch her und kaute heftig. Margaret studierte sein wütendes Gesicht und staunte, als sie unter der Maske des Zorns Verwirrung erkannte. Es war ungewohnt, ihn erschüttert zu sehen, denn seine Arroganz überstand normalerweise jede Krise. Während sie ihn so ansah, wurde ihr klar, daß seine ganze Welt zusammenbrach. Er hatte gewollt, daß die Briten sich unter seiner Führung zum Faschismus bekannten, statt dessen hatten sie dem Faschismus den Krieg erklärt und ihn aus dem Land vertrieben.
Im Grunde hatten sie seine Politik schon Mitte der dreißiger Jahre verworfen, doch bis jetzt hatte er das nicht wahrhaben wollen und sich selbst vorgemacht, daß sie eines Tages in der Stunde der Not zu ihm kommen würden. Deshalb war er so unleidlich – sein Leben war ein Selbstbetrug. Die Begeisterung für seine Idee hatte sich zur Besessenheit entwickelt, sein Selbstbewußtsein war zur Unbeherrschtheit und Dünkelhaftigkeit geworden, und nachdem es ihm nicht gelungen war, Großbritannien zu beherrschen, war er dazu herabgesunken, seine Kinder zu tyrannisieren. Doch nun mußte er der Wahrheit ins Gesicht sehen. Er verließ sein Vaterland und würde vielleicht nie mehr zurückkehren dürfen.
Und – nicht genug damit – in dem Augenblick, da alle seine politischen Hoffnungen unweigerlich zerstört waren, rebellierten auch noch seine Kinder. Percy täuschte eine jüdische Abstammung vor, Margaret hatte versucht davonzulaufen, und jetzt trotzte ihm sogar Elizabeth, seine einzige Gleichgesinnte.
Margaret hatte geglaubt, sie würde sich über jeden Sprung in seiner Fassade freuen, aber jetzt fühlte sie sich unbehaglich. Vaters steter Despotismus war eine Konstante in ihrem Leben gewesen, und der Gedanke, daß er vielleicht zusammenbrach, bestürzte und verunsicherte sie.
Sie versuchte, etwas zu essen, konnte jedoch kaum schlucken. Mutter schob eine Zeitlang eine Tomate auf ihrem Teller herum, dann legte sie die Gabel zur Seite und fragte: »Gibt es einen jungen Mann in Berlin, der dir etwas bedeutet, Elizabeth?«
»Nein«, antwortete Elizabeth. Margaret glaubte ihr, trotzdem verriet Mutters Frage Scharfblick. Margaret wußte, daß die Anziehungskraft, die Deutschland auf Elizabeth hatte, nicht rein ideologisch war. Es gab etwas an den großen blonden Soldaten in ihren makellosen Uniformen und spiegelblanken Stiefeln, das Elizabeth auf einer anderen
Weitere Kostenlose Bücher