Nacht über den Wassern
Boden, und das rührte sie fast zu Tränen. Von hier kamen wir, dachte sie, vor vielen Jahren. Unterdrückt von den Briten, verfolgt von den Protestanten, ausgehungert durch die große Hungersnot, haben wir unsere Heimat verlassen und sind dicht gedrängt auf hölzernen Schiffen zu einer neuen Welt gesegelt.
Und wie typisch irisch meine Rückkehr ist, dachte sie grinsend. Ich wäre bei der Ankunft fast draufgegangen!
Genug der Gefühlsduselei! Sie lebte, aber konnte sie den Clipper noch erreichen? Sie schaute auf die Armbanduhr. Fast Viertel nach zwei. Der Clipper war eben von Southampton gestartet. Sie konnte Foynes noch rechtzeitig erreichen, falls der Doppeldecker wieder in die Luft zu kriegen war und sie den Mut aufbrachte, wieder einzusteigen.
Sie ging nach vorn. Lovesey drehte einen riesigen Schraubenschlüssel, um eine Mutter zu lösen. »Können Sie es richten?« fragte Nancy.
Er blickte nicht auf. »Weiß nicht.«
»Woran liegt es?«
»Weiß nicht.«
Seine wortkarge Stimmung ärgerte sie. Gereizt fragte Nancy: »Haben Sie nicht behauptet, Sie seien Ingenieur?«
Das saß. Er blickte sie an und entgegnete: »Ich habe Mathematik und Physik studiert. Mein Fach ist Luftwiderstand komplexer Wölbungen. Ich bin kein Mechaniker.«
»Dann sollten wir einen Mechaniker holen.«
»Sie finden auf dieser ganzen verdammten Insel keinen. Das Land befindet sich noch in der Steinzeit.«
»Nur, weil die brutalen Briten so viele Jahrhunderte auf dem irischen Volk herumgetrampelt sind!«
Er zog den Kopf aus der Haube und richtete sich auf. »Was zum Teufel soll dieses Geschwafel über Politik?«
»Sie haben es nicht einmal für nötig gefunden, sich zu erkundigen, wie es mir geht!«
»Ich sehe auch so, daß Ihnen nichts passiert ist.«
»Sie haben mich fast umgebracht!«
»Ich habe Ihnen das Leben gerettet.«
Der Mann war einfach unmöglich.
Sie ließ den Blick über den Horizont schweifen. Einige hundert Meter entfernt erstreckte sich eine Hecke oder auch Mauer, vielleicht an einer Straße entlang. Und nur ein Stückchen weiter sah sie mehrere niedrige Strohdächer dicht beisammen. Vielleicht konnte sie dort einen Wagen bekommen, der sie nach Foynes brachte. »Wo sind wir?« fragte sie. »Und sagen Sie nicht, daß Sie es nicht wissen!«
Er grinste. Er überraschte sie erneut damit, daß er gar nicht so übellaunig war, wie es den Anschein hatte. »Ich glaube, in der Nähe von Dublin.«
Sie beschloß, nicht untätig hier herumzustehen, während er am Motor bastelte. »Ich hole Hilfe«, erklärte sie.
Er blickte auf ihre Füße. »Weit werden Sie in Ihren Stöckelschuhen nicht kommen!«
Ich werd‘ es ihm zeigen! dachte sie wütend. Sie hob den Rock und löste rasch die Strümpfe. Er starrte sie an und bekam einen roten Kopf. Sie rollte die Strümpfe hinunter und zog sie mit den Schuhen aus. Es amüsierte sie, ihn so aus der Fassung zu bringen. Während sie die Schuhe in die Manteltaschen steckte, sagte sie: »Ich bin bald zurück.« Barfuß marschierte sie los.
Mit dem Rücken zu ihm gestattete sie sich nach ein paar Metern ein breites Grinsen. Er war so verdutzt gewesen! Geschah ihm recht, wenn er schon so gottverdammt herablassend tat!
Die Freude, ihn übertrumpft zu haben, schwand allerdings rasch. Ihre Füße wurden naß, kalt und schmutzig. Die Häuschen waren weiter entfernt, als sie geglaubt hatte. Sie wußte noch nicht einmal, was sie tun würde, wenn sie sie erreichte. Am besten jemanden suchen, der sie nach Dublin bringen würde. Lovesey hatte wahrscheinlich recht, was die Knappheit von Mechanikern in Irland betraf.
Sie brauchte zwanzig Minuten, um die winzige Ortschaft zu erreichen.
Hinter dem ersten Haus entdeckte sie eine kleine Frau, die in Holzpantoffeln ihren Gemüsegarten umgrub. »Hallo!« rief Nancy.
Die Frau riß den Kopf hoch und schrie erschrocken auf.
»Mein Flugzeug hat einen Motorschaden«, erklärte Nancy.
Die Frau starrte sie an, als käme sie aus dem Weltraum.
Nancy wurde bewußt, daß sie in Kaschmirmantel und mit nackten Füßen einen etwas ungewöhnlichen Anblick bieten mußte. Wahrscheinlich wäre für die Kätnerin, die in ihrem Garten buddelte, ein Geschöpf von einem anderen Stem nicht überraschender gewesen als eine Frau aus einem Flugzeug. Die Frau streckte vorsichtig die Hand aus und berührte Nancys Mantel. Das machte Nancy verlegen. Die Frau benahm sich, als wäre Nancy eine Göttin.
»Ich bin Irin«, versicherte ihr Nancy, um dadurch vielleicht ein wenig
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