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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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kennengelernt hatte. Sie sahen ihre Stärke und suchten einen ruhigen Hafen in ihren Armen. Aber ich wünsche mir einen Mann, der ein Hafen für mich ist! dachte sie.
    Wenn ich hier heil davonkomme, werde ich mir zumindest noch einen Liebhaber anlachen, bevor ich sterbe.
    Jetzt wird Peter doch gewinnen, dachte sie. Das war eine verdammte Schande. Die Firma war das einzige, was von ihrem Vater geblieben war, und würde nun aufgesogen werden und in der amorphen Masse von General Textiles untergehen. Vater hatte sein ganzes Leben hart gearbeitet, dieses Unternehmen aufzubauen, und Peter hatte es auf seine faule, selbstsüchtige Weise in fünf Jahren zugrunde gerichtet.
    Manchmal vermißte sie ihren Vater immer noch. Er war ein so kluger Mann gewesen. Wann immer es ein Problem gegeben hatte – ob es nun um eine große geschäftliche Krise ging wie die Wirtschaftskrise, oder um eine kleinere Familienangelegenheit, wenn einer der Jungs sich in der Schule nicht anstrengte –, Vater fand immer eine Möglichkeit, alles zum Guten zu wenden. Vater war in technischen Dingen immer sehr geschickt gewesen, und die Hersteller der großen Maschinen, die in der Schuhfabrik benötigt wurden, hatten häufig erst seinen Rat eingeholt, bevor der Konstruktionsplan abgesegnet wurde. Nancy war mit dem Fertigungsvorgang völlig vertraut, aber ihre Stärke bestand darin, vorherzusehen, welche modischen Formen zum Renner würden; und seit sie die Fabrik leitete, machten sie mit Damenschuhen mehr Gewinn als mit Herrenschuhen. Sie hatte sich nie durch den Schatten ihres Vaters gehemmt gefühlt wie Peter; Vater fehlte ihr, weil sie ihn geliebt hatte.
    Plötzlich erschien ihr der Gedanke, daß sie sterben würde, lächerlich und unwirklich. Das wäre, als fiele der Vorhang vor dem Ende des Stückes, wenn der Hauptdarsteller noch mitten im Deklamieren war. So etwas passierte einfach nicht. Eine Zeitlang fühlte sie sich auf völlig vernunftwidrige Weise fröhlich und war überzeugt, daß ihr nichts passieren würde.
    Das Flugzeug verlor weiter an Höhe, während die irische Küste schnell näher kam. Schon bald konnte sie die smaragdgrünen Wiesen und braunen Moore sehen. Von dort stammen die Blacks, dachte sie erregt.
    Unmittelbar vor ihr begannen sich Mervyn Loveseys Kopf und Schultern heftig zu bewegen, als plage er sich mit der Steuerung; sogleich wechselte Nancys Stimmung wieder, und sie fing an zu beten. Sie war katholisch erzogen worden, aber seit Seans Tod nicht mehr zur Kirche gegangen. Sie wußte nicht so recht, ob sie gläubig war oder nicht, doch jetzt betete sie inbrünstig, schlimmer machen konnte sie ihre Lage damit bestimmt nicht. Sie betete das Vaterunser, dann darum, daß Gott sie rette, so daß sie wenigstens noch erleben könnte, daß Hugh heiratete und eine Familie gründete; und daß sie ihre Enkel noch sehen könnte; und sie betete, weil sie die Firma behalten und ihre Arbeiter und Angestellten weiterbeschäftigen und gute Schuhe für gewöhnliche Sterbliche machen wollte; und weil sie ein bißchen Glück für sich selbst wollte. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß ihr Leben viel zu lange nur aus Arbeit bestanden hatte.
    Sie konnte jetzt die weißen Schaumkronen der Wellen sehen. Die verschwommene Küstenlinie wurde zu Brandung, Strand, Klippen und grünen Wiesen. Ängstlich fragte sie sich, ob sie imstande sein würde, an Land zu schwimmen, falls das Flugzeug ins Wasser stürzte. Sie hielt sich für eine gute Schwimmerin, aber in einem Swimmingpool sorglos hin und her zu paddeln war etwas anderes, als in bewegter See durchzuhalten. Das Wasser würde sehr kalt sein. Wie hieß doch das Wort, wenn jemand erfror? Unterkühlung! Mrs. Lenehans Flugzeug stürzte in die Irische See, und sie starb an Unterkühlung, würde der Boston Globe schreiben. Sie fröstelte in ihrem Kaschmirmantel.
    Falls das Flugzeug wirklich abstürzte, würde sie vielleicht gar nicht so lange leben, daß sie die Wassertemperatur spürte. Sie fragte sich, wie schnell es war. Es flog gewöhnlich mit einer Reisegeschwindigkeit von hundertfünfundvierzig Stundenkilometern, hatte Lovesey ihr erklärt; aber es verlor jetzt auch an Geschwindigkeit. Wie viele Stundenkilometer es wohl jetzt machte? Angenommen, es waren achtzig. Sean war achtzig gefahren, als es zum Unfall kam, und er hatte es nicht überlebt. Nein, es war sinnlos zu überlegen, wie weit sie schwimmen könnte.
    Die Küste kam näher. Vielleicht waren ihre Gebete erhört worden; vielleicht konnte das

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