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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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gegessen?«, und wartete. Alle schauten sich um, aber George war verschwunden! Ein sehr langes Schweigen folgte.« Sie legte der dramatischen Wirkung wegen selbst eine Pause ein. Diana lächelte. Was taten die Leute wirklich, wenn während einer Radioshow etwas schiefging? Sie hörte oft Rundfunk, konnte sich jedoch nicht erinnern, daß so etwas je vorgekommen war. Lulu fuhr fort: »Also sagte ich meinen Satz noch einmal: »Wer hat die Ostertorte gegessen?« Dann machte ich so weiter.« Sie senkte das Kinn und sprach mit überraschend glaubhafter, mürrischer Männerstimme: »Muß wohl die Katze gewesen sein.«
    Alle lachten.
    »Und das war das Ende der Show«, schloß sie.
    Diana erinnerte sich, daß ein Sprecher während einer Übertragung so über einen Versprecher erschrak, daß ihm »Großer Gott!« herausgerutscht war. »Ich habe einmal einen Sprecher fluchen gehört«, sagte sie. Sie wollte die Geschichte erzählen, aber Mark unterbrach sie: »Das kommt ständig vor.« Er wandte sich wieder Lulu Bell zu und gab ein Beispiel zum besten.
    Sowohl Mark wie Lulu bogen sich darüber vor Lachen, und auch Diana lächelte, aber sie fing an, sich ausgeschlossen zu fühlen. Sie dachte, daß sie ziemlich verwöhnt war. Drei Monate lang, während Mark allein in einer fremden Stadt gewesen war, hatte sie sich seiner ungeteilten Aufmerksamkeit erfreut. Das konnte natürlich nicht so weitergehen. Sie würde sich daran gewöhnen müssen, daß sie ihn von jetzt an mit anderen teilen mußte. Aber niemand konnte sie zwingen, die Rolle der Zuhörerin zu spielen. Sie wandte sich Prinzessin Lavinia zu, die rechts von ihr saß, und fragte: »Hören Sie gern Radio, Prinzessin?«
    Die greise Russin rümpfte ihre schmale Adlernase und antwortete: »Ich finde es etwas gewöhnlich.«
    Diana hatte nicht zum erstenmal mit hochnäsigen alten Damen zu tun und ließ sich nicht von ihnen einschüchtern. »O wirklich? Erst gestern abend wurden Beethovens Quintette gesendet.«
    »Deutsche Musik ist so mechanisch«, entgegnete die Prinzessin.
    Ihr konnte man nichts recht machen, schloß Diana. Die Prinzessin hatte früher zur müßigsten und privilegiertesten Klasse gehört, die es je auf der Welt gab, und sie wollte, daß jeder sich dessen bewusst wurde. So gab sie vor, daß nichts, was ihr geboten wurde, so gut war, wie sie es einst gewöhnt gewesen war. Sie war bestimmt nicht nur als Mitreisende langweilig.
    Davy, der Steward, der für die hintere Hälfte des Flugzeugs zuständig war, erschien, um Bestellungen für Cocktails entgegenzunehmen. Er war ein kleiner, adretter, charmanter junger Mann mit blondem Haar. Er kam den weichen Teppichboden des Mittelgangs mit federnden Schritten entlang. Diana bat um einen trockenen Martini. Sie hatte keine Ahnung, was das war, aber aus Filmen erinnerte sie sich, daß es in Amerika ein beliebter Drink war.
    Sie studierte die zwei Männer auf der anderen Seite des Abteils. Beide schauten aus dem Fenster. Der näher sitzende war ein gutaussehender junger Mann in einem fast zu auffälligen Anzug. Er war breitschultrig wie ein Sportler und trug mehrere Ringe. Seiner dunklen Hautfarbe nach konnte er ein Südamerikaner sein, fand Diana. Der Mann ihm gegenüber paßte eigentlich nicht so recht hierher. Sein Anzug saß schlecht, und sein Hemdkragen war abgewetzt. Er sah gar nicht so aus, als könnte er sich ein Clipperticket leisten. Sein Kopf war kahl wie eine Glühbirne. Die beiden Männer unterhielten sich nicht miteinander, ja, blickten einander nicht einmal an, trotzdem war Diana überzeugt, daß sie zusammengehörten.
    Sie fragte sich, was Mervyn jetzt wohl machte. Bestimmt hatte er ihren Brief inzwischen gelesen. Vielleicht weint er, dachte sie schuldbewußt. Nein, das sähe ihm nicht ähnlich. Wahrscheinlicher war, daß er tobte. Aber an wem konnte er seine Wut auslassen? An seinen bedauernswerten Angestellten vielleicht. Sie wünschte sich, ihr Brief wäre freundlicher gewesen oder zumindest etwas aufschlußreicher.
    Aber sie war einfach zu aufgewühlt gewesen. Wahrscheinlich würde er ihre Schwester Thea anrufen. Er würde annehmen, daß Thea wußte, was sie vorhatte. Aber Thea hatte keine Ahnung. Sie würde sich Sorgen machen. Wie würde sie es den Zwillingen erklären? Der Gedanke machte Diana das Herz schwer. Ihre kleinen Nichten würden ihr fehlen.
    Davy kam mit ihren Drinks zurück. Mark prostete Lulu zu, dann Diana – fast, als wäre es ihm erst im letzten Moment noch eingefallen, dachte sie

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