Nacht über den Wassern
Erleichterung. Er war gekommen, sie zu holen!
Das Flugzeug hielt heftig vibrierend vor ihr an. Mervyn brüllte etwas, das sie nicht verstehen konnte. »Was?« schrie sie. Ungeduldig winkte er ihr. Sie rannte zur Maschine. Er beugte sich zu ihr hinunter und brüllte: »Worauf warten Sie? Steigen Sie ein!«
Sie schaute auf die Uhr. Viertel vor drei. Sie konnten es noch rechtzeitig nach Foynes schaffen! Ihr Herz schlug vor Freude höher.
Ich bin noch nicht am Ende, dachte sie.
Der junge Schmied kam mit verschmitztem Blick näher und schrie: »Warten Sie, ich helf Ihnen.« Er verschränkte die Hände zur Räuberleiter. Sie setzte ihren schmutzigen Fuß darauf, und er schob sie hoch. Sie kletterte auf ihren Sitz.
Das Flugzeug setzte sich sofort wieder in Bewegung.
Sekunden später waren sie in der Luft.
Mervyn Loveseys Frau war sehr glücklich.
Diana hatte sich gefürchtet, als der Clipper startete, doch jetzt war sie in absoluter Hochstimmung.
Sie war noch nie zuvor geflogen. Mervyn hatte sie kein einziges Mal eingeladen, ihn in seinem kleinen Flugzeug zu begleiten, obwohl sie Tage damit verbracht hatte, es für ihn leuchtend gelb zu bemalen. Sobald die anfängliche Nervosität überwunden war, stellte sie fest, daß es ein herrlich aufregendes Gefühl war, sich so hoch in den Lüften in einer Art exklusivem Hotel mit Schwingen zu befinden und hinunterzublicken auf Englands Wiesen und Felder, Straßen und Eisenbahnen, Häuser und Kirchen und Fabriken. Sie fühlte sich frei. Sie war frei! Sie hatte Mervyn verlassen und war mit Mark durchgebrannt.
Gestern abend hatten sie sich im Hotel South-Western in Southampton als Mr. und Mrs. Alder eingetragen und dann zum erstenmal eine ganze Nacht miteinander verbracht. Sie hatten sich geliebt, dann geschlafen, und als sie am Morgen aufwachten, wieder geliebt. Ein wahrer Luxus nach drei Monaten viel zu kurzer Nachmittage und hastiger Küsse.
Mit dem Clipper zu fliegen war wie in einem Film. Man war von geschmackvoller Pracht umgeben, von eleganten Mitreisenden, die beiden Stewards waren auf unaufdringliche Weise zuvorkommend, alles verlief wie nach einem guten Drehbuch, und wo man hinsah, entdeckte man berühmte Persönlichkeiten: Baron Gabon, der reiche Zionist, der sich fast ununterbrochen angeregt mit seinem hageren Begleiter unterhielt. Der als Faschist bekannte Lord Oxenford mit seiner schönen Gemahlin. Prinzessin Lavinia Bazarov, eine der Säulen der Pariser Gesellschaft, saß sogar in Dianas Abteil am Fensterplatz ihres Sofas.
Den anderen Fensterplatz dieser Seite, der Prinzessin gegenüber, hatte der Filmstar Lulu Beil. Diana kannte viele ihrer Filme, wie Mein Vetter Jake, Seelenqual, Heimlichkeiten, Die schöne Helena. Diese und andere waren in den Paramount-Lichtspielen in Manchester aufgeführt worden. Die größte Überraschung war jedoch, daß Mark sie persönlich kannte. Kaum hatten sie sich auf ihren Plätzen niedergelassen, hatte eine durchdringende Stimme gerufen: »Mark! Mark Alder! Bist du es wirklich?« Als Diana sich umdrehte, sah sie eine zierliche Blondine, die wie ein Kanarienvogel auf Mark zuflog.
Es stellte sich heraus, daß die beiden vor vielen Jahren, ehe Lulu ein Star war, gemeinsam an einer Radioshow in Chicago gearbeitet hatten. Mark hatte Diana vorgestellt, und Lulu war wirklich süß gewesen und hatte gesagt, wie schön Diana war und welches Glück Mark gehabt hatte, sie zu finden. Aber natürlich war sie mehr an Mark interessiert, und die beiden unterhielten sich bereits seit dem Start unentwegt. Sie schwelgten in Erinnerungen über vergangene Zeiten, als sie noch jung und knapp bei Kasse waren, in billigen Quartieren gehaust und die ganze Nacht schwarzgebrannten Schnaps getrunken hatten.
Diana hatte nicht gedacht, daß Lulu so klein war. In ihren Filmen wirkte sie größer. Jünger ebenfalls. Und aus solcher Nähe sah sie auch, daß Lulus Blond nicht echt war wie ihres. Aber ihr lebhaftes, vergnügtes Wesen, ihr Markenzeichen in den meisten Filmen, war echt. Selbst jetzt war sie der Mittelpunkt. Obwohl sie sich mit Mark unterhielt, blickten alle zu ihr herüber: Prinzessin Lavinia in der Ecke, die zwei Herren auf der anderen Seite des Mittelgangs und sie salbst.
Lulu erzählte von einer Radiosendung, während der einer der Sprecher gegangen war, weil er gedacht hatte, seine Rolle wäre zu Ende; tatsächlich hatte er aber am Ende des Stücks noch einen Satz zu sprechen. »Ich sagte meinen letzten Satz, »Wer hat die Ostertorte
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